-

- -
-
- Ein Archiv im Medienwechsel
Wissenschaftler, Künstler und Informatiker arbeiten daran, das Vilém_Flusser_Archiv (KHM Köln) als vernetzte intermediale Sammlung zugänglich zu machen.
// Nils Röller
-
- - -
-
-
-

Der überlieferte Beginn der europäischen »Liebe zum Wissen« - der Philosophie - erscheint heute im Zwielicht eines Medienwechsels und zwar des Wechsels von einem akustischen Medium in ein akustisch-visuelles Medium. Das Zwielicht können wir heute in seiner eigentümlichen Qualität wahrnehmen, da wir selbst einen Medienwechsel erleben: vom stabilen Medium der Überlieferung in der Buchkultur mit Urheberrechten und Autorschaften hin zu den instabilen elektronischen Wissensbewegungen des Internets.


Vilém Flusser

Im Werk und Archiv des Publizisten Vilém Flusser sind strukturelle Übereinstimmungen mit den medialen Fragen zu finden, denen auch der griechische Philosoph Platon ausgesetzt war. Platon hält schriftlich die Lehren von Sokrates fest, der selbst nicht geschrieben haben soll. Im Werk des Philosophen Platon wird schriftlich eine Polemik gegen die Verschriftlichung von Gedanken festgehalten. Vilém Flusser stellt zwei Jahrtausende später schriftlich das Ende der Schriftkultur fest. Zugleich betont Flusser, dass sein schriftliches Werk durch die Kritik von Alex Bloch an Qualität gewonnen hat. Alex Bloch hat im Unterschied zu Flusser nicht schreiben wollen. Er ist ein brasilianischer Sokrates, der wie Flusser aus Mitteleuropa nach Südamerika flüchten musste.

Im Unterschied zu den griechischen Philosophen, deren Denken in einer beschränkten Zahl von Handschriften überliefert worden ist, aber auch im Unterschied zu den Philosophen der Neuzeit, deren Texte in Archiven verwaltet werden, ist das Archiv von Vilém Flusser ein Fundus unterschiedlicher Aufzeichnungstechniken. Neben Typoskripten, Briefwechseln und Publikationen, also schriftlichen Medien, verwahrt das Archiv Videokassetten und Tonkassetten. Dank der medialen Entwicklung sind in der jüngsten Vergangenheit Denkbewegungen nicht mehr nur in Texten konservierbar, sondern auch in Videoaufzeichnungen, Gesprächsmitschnitten und Tondokumenten von Vorträgen. Dieser heteromediale Fundus des Archivs gestattet es, die Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Artikulation von Gedanken herauszuarbeiten. Das ist in der Geschichte der Philosophie ein neues Faktum. Das Vilém_Flusser_ Archiv Köln entwickelt derzeit ein intermediales Publikationsprojekt. Hintergrund des Projektes ist einerseits die Initiative des Verlegers Klaus Sander, der zwei Audio-CDs mit Reden Flussers publiziert hat und andererseits ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Kunst und Gestaltung in Zürich, bei dem eine Software zum kollaborativen Erschließen von Tonarchiven entwickelt wird.

Das intermediale Publikationsprojekt sieht nun vor, dass, ausgehend von dem Fundus an Tondokumenten, Flussers unveröffentlichte Manuskripte erschlossen werden. Zum Beispiel hat Flusser engagiert an dem Aufbau eines »Hauses der Farbe« in São Paulo mitgewirkt. Dokumentiert wird dieses Engagement durch umfangreiche Mitschnitte eines Symposions, zu dem auch Jean Nouvel und Alessandro Mendini eingeladen waren. Die Vorbereitungen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen der Veranstaltung sind in einem Konvolut von Briefen konserviert. Deutlich hörbar und lesbar ist Flussers Anspruch, die Codierung der Farbe als Herausforderung für die Naturwissenschaft und für die Kulturwissenschaften darzustellen und zu diskutieren. Die Vielsprachigkeit Flussers (er sprach u.a. Deutsch, Portugiesisch, Französisch und Englisch) erfordert es, dass an der Edition der Dokumente Partner aus den jeweiligen Kulturen mitwirken. Intermediales Publizieren ist deshalb eine Verpflichtung und Chance zur internationalen Zusammenarbeit zwischen den Kontinenten, aber auch innerhalb Europas.

Flusser gleicht auch in einem weiteren Punkt seinen griechischen Vorfahren. Er war zur Wanderschaft und zum Exil gezwungen. Die Beschäftigung mit seiner Philosophie erfordert internationale Denkanstrengungen und ist zugleich eine Gratwanderung zwischen dem Medium der Schrift und der mündlichen Rede. Die Differenz zwischen beiden ist konstitutiv für Flussers Gedankenbildung. Er ist ein Denker der Übergangszeit, der Wege in die Vergangenheit der schriftlichen Philosophiegeschichte und in die Zukunft des elektronisch bewegten Wissens weist.

Es sei nun dahingestellt, ob das Werk von Schulphilosophen wie Heidegger, Wittgenstein oder Adorno vorrangig im Vergleich mit Platon zu diskutieren wäre und nicht die Hinterlassenschaft des vagabundierenden philosophischen Erzählers und Spekulanten Vilém Flusser. Im folgenden möchte ich auch nicht den philosophischen Wert Platons und Flussers vergleichen, sondern vor dem Hintergrund der langen Genese des historischen Textkörpers Platons auf die Chancen des aktuellen Medienwechsels hinweisen, die sich entlang der Biographie und der Theoriebildung Flussers entwickeln lassen.

Die Biographie Flussers und seine Polemik gegen starre Systeme und Verankerungen des Denkens korrespondieren mit erwarteten Veränderungen des Archivwesens. Künftige Archive werden sich nicht mehr allein der Überlieferungsfrage und Sicherstellung von Dokumenten widmen, sondern der operationellen Verfügbarkeit. Archive werden im Zuge der Digitalisierung Schutzwände einreißen und sich an durchlässige Wände gewöhnen. Flusser favorisiert aus biographischen und wissenschaftstheoretischen Gründen den Gedanken des nomadischen Zelts. Das nomadische Zelt in der jüdischen Kultur besitzt dünne Leinwände. Die Geräusche der Außenwelt dringen kaum gefiltert in das Innere. Das Zelt ist leicht und schnell versetzbar. Flusser und das Archiv haben häufig die Orte gewechselt. Er studierte in Prag Philosophie, bevor er von dort vor den Nazis flüchten musste. Er emigrierte über London nach São Paulo in Brasilien. Dort war er zunächst in der Wirtschaft tätig, bevor er die Notlage, ein Fremdsprachler zu sein, als große Chance begriff. Flusser sah in dieser werdenden Sprache eine willkommene Gelegenheit, abstrakte Begriffe aus der Wissenschaft- und Kommunikationstheorie elegant darzustellen. Er wurde zum gefragten Essayisten, dessen Stil jüngere Autoren nachahmten, avancierte zum Professor für Kommunikationstheorie und war als Berater der Biennale von São Paulo tätig. Man soll ihm sogar einen Ministerposten angeboten haben, den er jedoch mit dem schlichten Kommentar ablehnte, dass solch ein politischer Posten für einen gelehrten Mann unehrenhaft sei. Es waren wohl auch Bemerkungen wie diese, die seine Situation in dem von Militärs regierten Brasilien so erschwerten, dass er 1972 erneut emigrieren musste und sich in Frankreich niederließ. Flusser starb 1991 bei einem Autounfall nahe der tschechisch-deutschen Grenze.

Platon beginnt achtzehn Jahre nach Sokrates’ Tod des dessen philosophische Gedanken dialogisch darzustellen. Dieser zeitliche Abstand und die Dramaturgie der Dialoge lassen es fragwürdig erscheinen, wo die Grenze des platonischen Sokrates und des historischen Sokrates verläuft. Platons Schriften und weitere Texte, die als platonisch galten, sind wiederum erst hundert Jahre nach Platons Tod in schriftlichen Werken gesammelt worden. Eingang fanden auch Schriften, deren Echtheit im 19. Jahrhundert, d.h. 2400 Jahre später, mit historisch-kritischen Methoden bestritten wurde. Der große zeitliche Abstand zeigt auch den Wandel des Kriteriums »Echtheit«. Das neunzehnte Jahrhundert, so kann man mit McLuhan und mit neueren Forschungen Martin Gieseckes folgern, argumentiert mit Kriterien, die durch den Buchdruck bestimmt worden sind. Die Kriterien der Platoniker hundert Jahre nach dem Tode des Meisters weichen davon ab. Ihr Maßstab war die besprochene Lehrmeinung und sie überlieferten, was sie für die Lehre platonischer Gedanken tauglich befanden. Zwar wurden Teile des von ihnen erstellten Textkörpers, des Corpus Platonicum, schon in der Antike als unecht bezweifelt, doch wurden die einmal konfigurierten Sammlungen und Abschriften bis zum neunzehnten Jahrhundert tradiert. Die Reihenfolge der Texte, d.h. die Ordnung der Glieder von Platons Textkörper, wurde beim Wechsel der Überlieferungsmedien vom Papyrus auf Pergament verändert.

Die von Klaus Sander erstellten Quellen zum schriftlichen Werk Flussers zeigen, dass die Texte ein Reservoir von Gedankengängen sind, die er selbst und in Zusammenarbeit mit Verlegern nach Bedarf und Dringlichkeit kombinierte. Zahlreiche einzelne Artikel, die Flusser im Supplement der Zeitung »O Estado de São Paulo« veröffentlicht hat, bilden z.B. die Kapitel des Buchs »Da Religiosidade« [Von der Religiosität], das 1967 erschien. Mit Hilfe des Archivs und der Quellen kann die Echtheitsfrage der Texte beantwortet werden. Damit sind die Texte Flussers festgestellt, doch die energisch-dialogische und das heißt mündliche Theoriebildung Flussers ist damit noch nicht angemessen überliefert. Außerdem bleibt eine Diskrepanz zwischen den vorhandenen Texten und den publizierten Texten bestehen, die in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Ansichten vom Corpus erzeugt: In Brasilien ist Flusser als Wissenschaftstheoretiker und philosophischer Schriftsteller bekannt; in Deutschland hingegen wird Flusser als Theoretiker der Photographie und der technischen Bilder rezipiert. Die Rezeption in Deutschland ist eng geknüpft an das Engagement von Verlegern, die aktuelle Debatten speisen wollten und mussten. Dementsprechend kursieren fragmentarische Ansichten vom Corpus Flussers. Diese Sichtweisen können meines Erachtens durch die Veröffentlichung von Audio-CDs modifiziert und erweitert werden. Sein legendärer Vortrag »Heimat und Heimatlosigkeit«, der 1999 auf einer Audio-CD erschien, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Medientechnik und der ethischen Frage nach dem Umgang mit dem Anderen und dem Fremden. Die CD gibt zu hören, dass Flussers Medientheorie im Rahmen einer prinzipiellen ethischen Frage situiert werden kann. Zweitens lässt sich das Internet zur einer Reedition der Denkbewegungen des Nomaden nutzen. Wurde die Ordnung der Texte Platons durch den Wechsel vom Papyrus zum Pergament verändert, so ist die Digitalisierung der Tondokumente eine Chance zu einer neuen Konfiguration der Gedankenbewegungen Flussers. Angesprochen ist nicht nur der Wechsel von medialen Trägern, sondern auch der sinnlichen Formen der Überlieferung. Zielen Texte primär auf den Sehsinn und Audio-CDs auf den Hörsinn, so bietet der Computer die Chance der hybriden Wahrnehmung und Verarbeitung in beiden Sinnen. Im vergangenen Herbst hat die Kunsthochschule für Medien Köln die Tondokumente mit Originalstimmen Flussers digitalisiert und auf CDs vorläufig gesichert, im zweiten Schritt ermöglichte sie die Komprimierung dieser Aufnahmen im Real Audio-Format. Anlass dafür ist das Projekt »Konnektive Schnittstellen« an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. In diesem Projekt wird eine Software zur Arbeit mit akustischen Dokumenten entwickelt. Zum Betatest der Software werden akustische Daten aus Flussers Nachlass verwendet. Das Programm gestattet es, die Tondokumente in Abschnitte zu gliedern und diese Abschnitte mit Schlagworten, Anmerkungen und Links zu versehen. Diese Abschnitte sollen in einem späteren Stadium zwischen verschiedenen Editoren ausgetauscht werden. Ein solches Programm ist nun für die Überlieferung Flussers eine besondere Chance, Ansichten von Flussers Denken neu zu justieren und in einem weiteren Projekt mit dem Titel »Intermediales Publizieren« zu veröffentlichen. Denkbar ist, dass die Editoren den Fundus an Ton-Dokumenten nach ihren Interessen gliedern und damit neue Ansichten von Flussers Werk entwerfen. Die Rezeption Flussers als Theoretiker des technischen Bildes kann dann durch die Edition von Gesprächen zur Religionsphilosophie, zur Ethik und zur Wissenschaftstheorie ergänzt werden. Diese Editionen können im Netz, auf Audio-CD und auf DVD publiziert werden. Das ist eine der Möglichkeiten, die das »Intermediale Publikationsprojekt« realisieren möchte. Die Editionstätigkeit kann auch einseitige Ansichten in unterschiedlichen Ländern ausbalancieren. Die Editionstätigkeit wird damit als eine »recreatio continua« begreifbar, das heißt als permanente Neuschöpfung. Ähnlich wie Flusser zur Verwendung von gedanklichen Modulen tendierte, so können computergestützte Editionen Tonmodule Flussers entsprechend den ethischen und religionsphilosophischen Anliegen des Denkers rekombinieren und publizieren. Diese Form der Publikation könnte zeigen, dass die Theorie neuer Medien für Flusser ein Weg war, um die ihm überlieferte Philosophie neu zu formulieren und zwar unter den Bedingungen digitaler Zwischenmenschlichkeit. Skeptiker müssen nicht um eine treue Tradierung des Werks des Nomaden fürchten. Dank einer Zusammenarbeit mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln kann die Kunsthochschule für Medien Köln die Originale der Texte Flussers angemessen sichern und lagern. Zudem werden die Tondokumente unabhängig von der Editionstätigkeit gesichert, so dass beim Streit um die Überlieferung Flussers Daten auf unterschiedlichen Trägermedien konsultiert werden können. Hinweise auf Ton- und Videodokumente nimmt das Archiv gerne entgegen unter flusser@khm.de .

-

Informationen zum _Vilém_Flusser_Archiv Köln unter www.khm.de

Verwendete Quellen: Michael Dertouzos: What Will Be - Die Zukunft des Informationszeitalters. Wien 1999 [Harper Collins Publishers 1997]

Vilém Flusser: Heimat und Heimatlosigkeit (Audio CD). Köln 1999 [supposé Verlag und Label] »Informationen zum _Vilém_Flusser_Archiv Köln unter www.khm.de «

Vilém Flusser: Die Informationsgesellschaft. Phantom oder Realität (Audio CD). Köln 1996 [supposé Verlag und Label]

Vilém Flusser: Briefe an Alex Bloch. Göttingen 2000 [European Photography]

Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1991 [Suhrkamp]

Robert Kretzschmar: »Spuren zukünftiger Vergangenheit. Archivarische Überlieferungsbildung im Jahr 2000 und die Möglichkeiten einer Beteiligung der Forschung«. In: Der Archivar, Jg. 53, 2000, Heft 3

H. Leisegang: »Platon - Der Philosoph: Überlieferung«. In: Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Vierzigster Halbband. Stuttgart 1950 [Alfred Druckenmüller Verlag]

Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Graz/Wien 1986, [Edition Passagen; Hg. Peter Engelmann]

Klaus Sander: Quellen zum Werk von Vilém Flusser. [Im Erscheinen]

-


¬Intro
¬Termine
¬Termine 2004
¬Termine 2003
¬Termine 2002
¬cast01 Spezial
¬Ausgabe 0
¬Impressum