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Thomas Münch

Selbstprofessionalisierung

Musik und Medien bei Schülern und Lehrern

Vorbemerkung


Der Umgang mit Musik (Musikhören, Musikmachen, über Musik sprechen usw.) gehört zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche. Im „undurchdringlichen Musikdschungel” haben sie eine Vielzahl von Strategien entwickelt, sich ihre Musik auszuwählen und in ihrem Sinne zu nutzen. Medien dienen dabei nicht nur der Musikverbreitung und -speicherung, sondern auch der Musikproduktion.
Im Folgenden wird zunächst kurz der Begriff „Selbstprofessionalisierung” auf dem Hintergrund des Konzepts der Selbstsozialisation vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden diese Überlegungen anhand musikkultureller Praktiken von Jugendlichen einerseits und MusiklehrerInnen andererseits konkretisiert. Abschließend werden die prototypisch skizzierten Unterschiede in den Sozialisationsprozessen von Jugendlichen und MusiklehrerInnen in Hinblick auf die Frage diskutiert, welche Konfliktlinien bzw. Herausforderungen sich daraus für die schulische Praxis ergeben können.

Selbstsozialisation am Beispiel Musik

Begriffserklärung


Mit dem Begriff „Selbstsozialisation” wird - stark verkürzt gesagt - zum Ausdruck gebracht, dass der lebenslange Sozialisationsprozess und die Persönlichkeitsentwicklung nicht primär als Reifeprozess und/oder als Übernahme von gesellschaftlich definierten Verhaltensstandards und Rollen verstanden werden kann, sondern die Menschen „als Informationen verarbeitende und handelnde Objekte maßgeblich an diesem Prozess und damit aktiv an ihrer Entwicklung beteiligt sind” [link 01] [1]. Die Notwendigkeit verstärkter Eigenaktivität ergibt sich aus der großen Vielfalt gesellschaftlicher Lebensweisen und Werthaltungen in der heutigen Zeit, die wiederum eine Reaktion auf tief greifende wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen sind. Lebensbiographien werden immer individueller und damit schwerer allgemein verbindlich planbar.
Heutige Jugendliche nutzen seit frühester Kinderzeit selbstverständlich und weitgehend selbstbestimmt medial vermittelte Musik und umgekehrt machen sich fast alle Medien die Attraktivität von Musik zur Vermarktung zunutze. Klingeltöne für Handys, Musik-Downloads im Internet, MTV, CDs, MP3-Player, Jugendzeitschriften: überall ist Musik zu hören oder wird auf Musik Bezug genommen. Dies bietet Jugendlichen nicht nur die Möglichkeit, über Musik unterschiedliche Erfahrungen zu machen, sondern sich auch im Sinne des Theorems von der Selbstsozialisation über Medien und Musik sozial zu positionieren. Da der Umgang mit Musikmedien ein weitestgehend entpädagogisierter Raum ist, haben schon kleine Kinder die Möglichkeit, alters- und generationsspezifische mediale Umgangsweisen zu entwickeln. Im Jugendalter wird dieses Verhalten noch prägnanter.

Chancen und Risiken


Mit den zunehmenden Gestaltungsmöglichkeiten sind Chancen und Risiken verbunden [link 02] [2]. Die „Freiheiten” können zu Ungewissheit und Unsicherheit in der Durchsetzung von Lebensperspektiven und -konzepten führen. Auf der anderen Seite sind die erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten aber auch die Ursache für kulturelle Vielfalt, wie z.B. ein Blick auf aktuelle jugendkulturelle Szenen (vgl. [link 03] jugendszenen.com oder [link 04] Archiv der Jugendkulturen zeigt. Hier ist eine unüberschaubare Zahl an kulturellen Praktiken mit spezifischen Stilsprachen und einem großen Funktionsspektrum entstanden, zwischen denen sich die Jugendlichen entscheiden können und müssen.

Jugendliche - Musik - Medien

Musikmachen im HipHop


Die erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten führen zu veränderten Strategien des Lernens. Fernab von institutionalisierten Lernformen (Familie, Kindergarten, Schule, Hochschule, Musikschule usw.) entstehen in den Szenen z.B. neue Formen des Musikmachens und des Erwerbs instrumenteller Fähigkeiten [link 05] [3]. Ein besonders beeindruckendes Beispiel hierfür ist der HipHop. Der intensive Gebrauch von Samplern zum Aufnehmen und Abspielen von Klängen und Musikfragmenten in digitaler Form und vor allem das Turntablism (die Nutzung von zwei Schallplattenspielern und einem Mischpult zum Musizieren) heben sich deutlich von anderen musikkulturellen Praktiken ab. Um das Beatjuggling - die Zusammenführung kurzer Abschnitte zweier Schallplatten zu neuen Musikstücken - musikalisch virtuos zu beherrschen, bedarf es jahrlangen intensiven Trainings. Auf Szene-Wettbewerben wird das eigene Können vorgeführt und bewertet. Der beiliegende Konzertausschnitt auf einer Tagung für Musikpädagogen gibt einen kurzen Einblick. [link 06] Video [RealMedia | 1, 5 Min.], [link 07] Video [Windows Media | 1, 5 Min.]

HipHop fasziniert und motiviert


Aus musikpädagogischer Perspektive fasziniert nicht nur die große künstlerische Qualität, die von manchen MusikerInnen erreicht wird, sondern auch ihre immense Lernbereitschaft und Ausdauer. Intensives eigenständiges Üben am Instrument, das aktive Suchen nach medialen und realen Vorbildern, von denen etwas gelernt werden kann, und die Freude am eigenen Entdecken musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten zeichnen diese Musiker aus und unterschieden sie von jenen, die traditionell mit LehrerIn und Lehrbuch ein Instrument erlernen. Die Verantwortung bei dieser Form des Musiklernens liegt nicht in der Hand von LehrerInnen sondern beim Lernenden selbst. [link 08] [4] Nicht erst im HipHop zeigt sich die Bereitschaft von Jugendlichen, eigenständig und eigenverantwortlich als Musiker aktiv zu werden. Erinnert sei nur an die Begeisterung für akustische und elektrische Gitarren im Rahmen der Folk- und Rockmusik.

Das musikalische Können


Neu am HipHop sind der starke Bruch mit bisherigen Musizierpraktiken und der hohe Medieneinsatz. Für die Arbeit mit Samplern und Schallplattenspielern ist das üblicherweise als Grundlage für jede Musikpraxis anerkannte Wissen um Tonarten, Taktformen usw. nicht nur nicht notwendig, sondern sogar eher störend, behindert es doch die Konzentration auf die wesentlichen musikalischen Parameter. Benötigt wird ein feines Ohr für minimale Timingschwankungen, ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl, sicheres Klangfarbenempfinden, gutes Repertoirewissen und die Bereitschaft zum schöpferischen Tun. vgl. [link 09] Video [Realmedia | 4 Min.], [link 10] [Windows Media | 4 Min.]
Die technischen Möglichkeiten der verwendeten Instrumente (Sampler, Plattenspieler und Mischpult) begrenzen wie bei jedem Instrument die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten; diese werden jedoch von ihren Nutzern mit viel Phantasie und großer Ausdauer immer wieder erkundet und dabei erweitert, was bis zur völligen Umdeutung technischer Geräte in Hinblick auf ihre Funktionalität führen kann; der Schallplattenspieler ist dafür ein besonders gutes Beispiel.

Musik auf dem Handy


Weniger spektakulär aber in seinen Konsequenzen sicherlich genauso bedeutungsvoll ist der in den letzten Jahren entstandene musikbezogene Umgang mit Handys. Besonders junge Frauen verwenden große Zeit darauf, sich in die technischen und kommunikativen Möglichkeiten ihres Handys einzuarbeiten. Dabei statten sie diese mit Klingeltönen und Logos aus, um auf diesem Wege dem jeweiligen Publikum etwas über ihren Status, ihre Einstellungen, ihre Interessen und Gruppenzugehörigkeiten mitzuteilen. [link 11] [5]

LehrerInnen - Musik - Medien

MusikLehrerInnen


Bei MusiklehrerInnen ist vor allem ein konservativer, distanzierter Medienumgang zu beobachten. Neue Medien werden von ihnen sowohl beruflich als auch privat kaum genutzt. „Leitmedien” im Musikunterricht sind Buch, Fotokopie, CD und MC. Wenn neue Medien verwendet werden, dominieren herkömmliche Umgangsweisen (z.B. die Erstellung von Arbeitsblättern oder Notenblättern am Computer). Die fachdidaktische Relevanz der neuen Medien wird als gering eingeschätzt. Anders gesagt: Die Nutzung des Computers bei MusiklehrerInnen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Nutzung von LehrerkollegInnen anderer Fächer. In Bezug auf neue Medien bewegen sich MusiklehrerInnen nicht wie Musik-Profis, „sondern sie spalten ihre musikbezogene Professionalität ab vom alltäglichen Umgang mit Medien”. [link 12] [6].

Warum gibt es kaum neue Medien im Musikunterricht?


Gründe hierfür liegen in der häufig geringen Erfahrung vieler MusiklehrerInnen im Umgang mit neuen Medien im Unterricht und in der geringen Wertschätzung und Unterstützung, der ihnen für persönliches Engagement in diesem sehr zeitaufwändigen Bereich entgegengebracht wird. Bei der Arbeit mit neuen Medien im Musikunterricht fühlen sich viele Musiklehrer als Einzelkämpfer. Computerräume sind meist nicht für musikspezifische Anwendungen eingerichtet. Ein Internetanschluss oder ein Beamer für den Musiksaal rangieren in den Prioritätslisten der schulischen Bedarfaufstellungen allzu oft ganz weit hinten. Hinzu kommt, dass es nach wie vor einen eklatanten Mangel an didaktisch-methodisch aufbereiteten Materialien für die Nutzung von neuen Medien im Musikunterricht gibt.
Tiefer liegende Gründe für die zurückhaltende Nutzung neuer Medien im Unterricht finden sich in den musikalischen und medialen Biographien. Ihre ersten zentralen musikalischen Erfahrungen in Kindheit und Jugend haben fast alle MusiklehrerInnen an traditionellen akustischen Instrumenten und dem entsprechenden Repertoire aus der Kunstmusik gemacht. Unter professioneller Anleitung von MusiklehrerInnen arbeiteten sie jahrelang systematisch anhand passenden Repertoires an Technik und musikalischem Ausdruck. Dominierende Lernform war dabei das Meister-Schüler-Verhältnis; Zielsetzung war die künstlerisch adäquate Reproduktion von Musikwerken. Kompositorische Aktivitäten von SchülerInnen blieben - wenn sie denn überhaupt stattfanden - in diesem Unterricht die große Ausnahme.
Die musikalische Ausbildung an Universitäten und Musikhochschulen hat diese Entwicklung zumeist verstärkt. Auch hier stand die traditionelle Ausbildung am Instrument für ein kunstmusik-orientiertes Repertoire im Mittelpunkt. Aspiranten für die Lehramtsausbildung Musik, die ihren Interessenschwerpunkt außerhalb der europäischen Kunstmusik haben, werden in der Regel schon bei der Aufnahmeprüfung ausgefiltert. [link 13] [7] Vielfach formulierte Forderungen nach einer Reform der Ausbildungsinhalte [link 14] [8] finden in der Praxis bislang nur einen geringen Widerhall.

Konflikte - Herausforderungen

MusiklehrerInnen erleben aufgrund der hier nur kurz und prototypisch skizzierten Musiksozialisation im Gegensatz zu Jugendlichen mit Computern oder anderen Medien erzeugte Musik zumeist als klanglich unbefriedigend und wenig ausdrucksstark. Sie befürchten u.a. eine Zurückdrängung sinnlicher Erfahrung und eine Standardisierung des musikalischen Materials. [link 15] [9]Vielleicht auch aus der Befürchtung, dass ihre eigene, mit großem Aufwand erworbene musikalische Kompetenz durch den jugendlichen Umgang mit Medien in Frage gestellt werden könnte, stehen für sie nicht die neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten im Vordergrund, sondern die von Computern ausgehende Bedrohung langjährig etablierter Musikpraxis. [link 16] [10] Medien werden allenfalls als Werkzeuge akzeptiert, die den Wissenserwerb in einigen Themenfeldern (z.B. Notation, Harmonielehre) erleichtern können.
Der von SchülerInnen lustvoll erlebte Umgang mit Medien ist für sie nur schwer verständlich; auch haben sie keinen geübten Blick für die „künstlerischen” Momente im jugendlichen Medienumgang und kennen zu wenige Strategien, diese Momente für den Unterricht produktiv nutzbar zu machen.
Aus jugendlicher Perspektive ist Musik primär etwas, das sie in der Freizeit nach ihren eigenen Regeln nutzen. Die oben knapp skizzierten Tendenzen der Selbstprofessionalisierung machen dies deutlich. Die im Lehrplan festgeschriebenen Inhalte des Musikunterrichts werden von ihnen zumeist - und sicherlich auch manchmal zu vorschnell - als wenig hilfreich und interessant erlebt, weshalb der Musikunterricht in der Gunst der SchülerInnen auch weit abgeschlagen hinter den anderen Schulfächern rangiert.

Literatur

[8] BÄßLER, Hans: Bruchstücke zur Frage, ob und inwieweit sich die Musiklehrerausbildung zu ändern habe. In: Musikforum (89), 1998, S. 22-31
[5] DÖRING, Nicola: Klingeltöne und Logos auf dem Handy. Wie neue Medien der Uni-Kommunikation genutzt werden. Medien & Kommunikationswissenschaft, 50 (3), 2002, S. 325-349
[6] EICHERT, Randolph & STROH, Wolfgang Martin: Medienkompetenz in der musikpädagogischen Praxis. In: Gembris, Heiner, Kraemer, Rudolf-Dieter & Maas, Georg (Hrsg.): Vom Kinderzimmer bis zum Internet. Musikpädagogische Forschung und Medien, Augsburg: Wißner, 2004. S. 36-65
[7] JÜNGER, Hans: Zuallerst sind wir doch Musiker. Überlegungen zu den Ursachen des Lehrermangels. In: Musik & Bildung (6), 2002, S. 4-9
[2] KNOLLE, Niels & MÜNCH, Thomas: Dann trigger ich den einfach an. Erscheinungsformen musikalischer Selbstsozialisation am Beispiel jugendlichen Erwerbs von Kompetenz im Umgang mit Neuen Musiktechnologien. Überlegungen zu einem Forschungsdesign. In: Knolle, Niels (Hrsg.): Musikpädagogik vor neuen Forschungsaufgaben, Essen: Blaue Eule, 1999, S. 196-213
[9] KNOLLE, Niels: bis wir die Chips in unser Hirn integrieren und fernsteuerbar sind. Zur Ideologiekritik der neuen Technologien in Schule und Gesellschaft und ihre Konsequenzen für die Musikpädagogik. In: Maas, Georg (Hrsg.): Musiklernen und Neue (Unterrichts-) Technologien, Essen, 1995, S. 41-59
[4] KNOLLE, Niels: Neue Wege der Selbst-Professionalisierung durch die Neuen Musiktechnologien. In: Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. Konzert - Klangkunst - Computer. Wandel der musikalischen Wirklichkeit, Mainz: Schott, 2002, S. 94-109
[1] MANSEL, Jürgen, FROMME, Johannes, KOMMER, Sven & TREUMANN, Klaus Peter (Hrsg.): Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung, Opladen: Leske und Budrich, 1999, S. 9-22
[3] MÜLLER, Renate: Musikalische Selbstsozialisation. In: Fromme, Johannes, Kommer, Sven, Mansell, Jürgen & Treumann, Klaus Peter (Hrsg.): Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung, Opladen: Leske und Budrich, 1999, S. 113-125
[10] MÜNCH, Thomas: Medien im Musikunterricht. In: Jank, Werner (Hrsg.). Musikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen, 2005, S. 216-223

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