Daniel  Stephan, Andrea  Schenck

Begegnungen auf Augenhöhe

Eine Unterrichtseinheit für die Ober- und Abschlussstufe einer Förderschule für Geistigbehinderte im Rahmen des Projektes: Kinder-Kunst-Medien

Definition des Blickwinkels

Definition des Blickwinkels

Inhaltliche Beschreibung

ARBEITSPROZESSE
Fotografieren
Nachdem die SchülerInnen Aufnahmen von gemeinsamen Orten (Schulfoyer, Schulhof, Pausenflur mit Kicker, Weg vom Schuleingang bis in die Klasse) gesammelt haben, fotografieren sie bewusst individuell gewählte Motive, z.B. die Perspektive aus dem Rollstuhl, um so beide beschriebenen Aspekte von Augenhöhe zu verdeutlichen.
Die eigene Augenhöhe definieren:
Zunächst schneiden die SchülerInnen aus schwarzem Fotokarton Rahmen, die den Bildausschnitt begrenzen. So reduziert sich für sie der normale Weitwinkel-Effekt des menschlichen Auges und die Unterschiede zwischen den Augenhöhen werden deutlich sichtbar. Darüber hinaus bewirkt der Rahmen, der auch auf den Fotos erkennbar ist, dass für die BetrachterInnen der bewusst gewählte Ausschnitt als künstlerische Leistung erkennbar bleibt. Außerdem helfen die Rahmen aus Karton durch die Befestigung an entsprechend langen Holzstäben, die gewünschte Höhe einzuhalten: die eigene Augenhöhe muss nicht immer neu gemessen werden, stattdessen kann die Kamera am Rahmen ausgerichtet werden. Dadurch definiert sich auch der Blickwinkel genau. Wir beschränken uns auf die Sicht geradeaus mit gerade gehaltenem Blick. Nachdem die SchülerInnen ihre Fotos gemacht und ausgedruckt haben, werden sie in Vorbereitung der Ausstellung an der Wand in der jeweiligen Augenhöhe befestigt. So erhalten die Kinder und Jugendlichen Gelegenheit, ihre Aufnahmen miteinander zu vergleichen und die Sichtweise von anderen kennen zu lernen.

Die Blickrichtung anderer erkunden
Im Modellversuch wird ein schwer behinderter Schüler als Gast einbezogen. Dieser ist selbst kaum zu einer Äußerung seiner Befindlichkeit in der Lage; was er visuell wahrnimmt, ist nicht bekannt. Seine MitschülerInnen erkunden seine Blickrichtung und passen ihm einen Rahmen an. Dann fotografieren sie, was man sieht, wenn man in die gleiche Richtung schaut. Dazu müssen sie ihren eigenen Blickwinkel verlassen und seinen einnehmen. Im zweiten Teil dokumentieren die SchülerInnen mit Videoaufnahmen, wie sie ihre Umgebung wahrnehmen. Gegenüber der Fotografie bietet das Medium Video die Möglichkeit, auch Bewegungsbesonderheiten (z. B. ruhiges Rollstuhlrollen, stark athetotische Bewegungen) zu thematisieren, die die jeweilige Sicht auf die Welt beeinflussen. Erst dokumentieren die Beteiligten, wie sie den Weg von der Tür des Schulhauses bis zu ihrem Klassenzimmer wahrnehmen, indem sie ihn aus ihrer Perspektive filmen. Anschließend überlegen sich alle, was sie persönlich am liebsten machen und lassen sich bei der Ausübung dieser Lieblingstätigkeit von einem Mitschüler/einer Mitschülerin aufnehmen.

Die Ausstellung
Zum Abschluss zeigt eine Ausstellung alle Bilder und Videos. Um das Thema Augenhöhe sinnlich erfahrbar zu machen, werden die Arbeiten in den unterschiedlichen Augenhöhen der Beteiligten auf der Wand positioniert. Porträtfotos der SchülerInnen verweisen wie Beschriftungen auf die AutorInnen der Weltansichten.

DIDAKTISCHE ÜBERLEGUNGEN
Sich Zeit lassen
Jede der beteiligten SchülerInnen bringt ganz individuelle Fähigkeiten und Einschränkungen in das Projekt ein, sowohl hinsichtlich vorhandener Kenntnisse im Umgang mit digitaler Technik als auch bezüglich der Bewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Um allen Kindern und Jugendlichen Raum und Zeit zum Handeln zu geben, ist es günstig, wenn zwei SchülerInnen miteinander mit Unterstützung durch einen Erwachsenen arbeiten. Durch eine lange Projektdauer ist außerdem genügend Zeit, alle Schritte wirklich von den Kindern selbst vollziehen zu lassen. Fotoapparat und Stativ werden von ihnen selbst eingerichtet, die Fotos formatiert, ausgedruckt und laminiert, die Videokamera bedient. Im Laufe des Projektes entwickeln die SchüerInnen eine große Sicherheit in den wiederkehrenden Abläufen, sehr selbstverständlich und erfolgreich klicken sie sich z. B. durch die Menüs zur Drucker-Einstellung (wobei sie sich fast ausschließlich an Anfangsbuchstaben oder anhand der Lagebeziehungen der Auswahlmöglichkeiten orientieren). Diese Herangehensweise birgt natürlich auch das Problem, dass SchülerInnen Zeiten erleben, in denen sie auf andere warten müssen und selbst nichts tun können, was sie auf eine harte Geduldsprobe stellt. In der Auseinandersetzung mit diesem Aushalten-müssen bietet sich jedoch gerade die Chance, sich der philosophischen Dimension des Projektthemas zu stellen und zu erleben, dass die eigenen Ergebnisse genauso wertgeschätzt werden wie die der TeamkollegInnen und dass die Ausstellung gerade durch die individuellen Besonderheiten der Fotos und Filme erst interessant wird.

Projekttagebuch
Die Zeitspanne der Unterrichtseinheit ist zu lang, um sie im Nachhinein überblicken und detailliert davon berichten zu können. Für die Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Kommunikation stark auf Unterstützung angewiesen sind, ist also eine Reflexion nur vorstellbar, wenn schon während des Projektverlaufs ständig Informationen gesammelt und konserviert werden. So beginnt jeder Projekttag mit der Rückschau auf den vorherigen. Während der eigentlichen Projektarbeit ist immer einer der SchülerInnen mit einer zweiten Kamera für dokumentarische Tagebuchaufnahmen ausgestattet. Diese Fotos auszudrucken und mit einer kurzen erläuternden Beschriftung in das eigene Projekttagebuch einzufügen, ist stets der Beginn des neuen Projekttages. Für die SchülerInnen ist dieser ritualisierte Ablauf sehr wichtig und sie blättern gern in den Tagebüchern, um sich an den bisherigen Hergang zu erinnern. Dabei helfen ihnen die Fotos auch, Einzelheiten oder Anekdoten der einzelnen Tage ins Gedächtnis zu rufen.