Frank Schöne, Elke Dietz, Kilian Hirt


timedeco

Narration im digitalen Zeitalter


timedeco [link 01]

timedeco

Inhalt

Inhaltliche Beschreibung

Der Vorspann von timedeco suggeriert in seiner Knappheit mit bunter Grafik und heiterer Computermusik das Eintauchen in eine Computerspielwelt. Der Zuschauer spielt jedoch nur mit bzw. gegen sich selbst und seine(r) Wahrnehmung des Films. timedeco versteht sich nicht als interaktive Installation, sondern als Plattform und Spiegel, als ein Interface zur Echtzeit-Choreographie von Figgis.
Die technische Funktionsweise der Installation liefert eine Metapher für das gegenseitig aufeinander bezogene Verhältnis der Kontrolle zwischen Mensch und Maschine: Die Maschine muss ein Bild vom Blick des Zuschauers zur Verfügung haben, damit sich dieser durch seinen Blick ein Bild vom Gezeigten machen kann.
Die Begegnung mit timedeco löst beim Zuschauer Faszination aus. Er hat das Gefühl, den Ereignissen live beizuwohnen und kann mit seinem magischen Blick den Ablauf des Films (genauer: des Tons) steuern. Mit den Augen durchmisst er das Koordinatensystem des split-screens und erfährt im Moment des bewegten Schauens die eigene Montage der bewegten Bilder. Der schneidende Blick wird hörbar. timedeco errechnet aus der Augenspur die Tonspur. Der Tonschnitt, mit dem die Kinofassung von Timecode den Blick des Zuschauers über die Leinwand lenkt, wird aufgehoben. Auf Tonebene existiert im Kino nur ein einziger Timecode-Film. timedeco ermöglicht unendlich viele Filmversionen, durch unbewusste und bewusste Augenbewegungen entsteht auf visueller und auditiver Ebene der individuelle Film des Betrachters. Der eigene Blick erzeugt (durchaus nicht immer nachvollziehbare) Abfolgen von Gesprächsfetzen.
Die Position des Users oszilliert zwischen der eines Regisseurs, der die Kontrolle über die Dramaturgie innehat, und der eines Zuschauers, der eine (in diesem Fall selbst-) gegebene Handlung zu verstehen versucht. Es entsteht ein Spannungsverhältnis, in dem der User gleichzeitig konstruiert und rekonstruiert.
Der Zuschauer begibt seinen Kopf in eine Halterung. Die körperliche Steifheit, die für das Erleben von timedeco notwendig ist, gerät durch die Flüssigkeit des Blicks und den immerzu neu entstehenden Film in Vergessenheit.
Der Zuschauer betätigt, während der Film projiziert wird, berührungslos mit seinen Augen das Schnittpult; Sehen und Produzieren fallen zusammen. Die Geschichte zersetzt sich vor den und durch die Augen des Betrachters. Die einzelnen Handlungsstränge bekommen ihre Eigenständigkeit zurück, die sie im Dispositiv des Kinos verloren hatten. timedeco hinterfragt die Funktionsweise von Narration im digitalen Zeitalter.
Wie bei einer Überwachungsanlage kann der Zuschauer von timedeco selbständig zwischen getrennten und doch zusammenhängenden Räumen hin und her springen und erlebt gleichzeitig die Überwachung seines Blicks durch die eigenen Ohren. Auch beistehende Besucher überwachen den Blick des Users, indem sie hören.
Eye-tracker werden sowohl zur Untersuchung von Benutzer- und Verbraucherverhalten über Blickanalysen (z.B. bei Usabilitytests von Internetseiten) verwendet als auch als Interface für körperlich behinderte Menschen eingesetzt. timedeco ist Interface und Blickanalyse in einem.

Kontext

Hochschule / Fachbereich

Humboldt Universität zu Berlin
Kulturwissenschaftliches Seminar

URL der Hochschule

» http://www.culture.hu-berlin.de [link 02]

Betreuer des Projekts

Prof. Dr. Natascha Adamowsky

Kommentar des Betreuers

Wenn wir heute ins Kino gehen und einen Film sehen, meint jeder recht genau zu wissen, was das ist. Ein Film ist ein Film und einen Film zu sehen, nun ja: Man sieht eben hin. Jedes Hinsehen aber ist ein anderes, es gibt ebenso viele unendliche Hinsichten des Hin- und Wegsehens, wie es unendlich viele mögliche Assoziationen gibt, die darin einfließen, was wir zu sehen meinen und hinterher behaupten, gesehen zu haben.
Einen Film "zu sehen" aber ist nur im alltagssprachlichen Sinne ein reines Seherlebnis. Natürlich hören wir Filme auch und, darauf hat schon Walter Benjamin hingewiesen, wir betasten sie und fühlen ihre Schocks.
timedeco ist eine Medieninstallation, die diesem Wechselspiel der Sinne nachgeht und seine technischen Bedingungen hinterfragt.
Die Ausgangslage ist überschaubar: vier Filme, vier Tonspuren, eine Kamera, ein Mensch, eine Maschine. Wer diktiert wem, was zu tun ist? Dass diese Frage nicht in einem Satz zu beantworten ist, ist eine der Pointen des Projektes; dass es statt dessen auf ein kompliziertes Geflecht von Abhängigkeiten und ineinander greifenden Prozessen verweist, seine Stärke. Hier geht es um Interdependenzen und die Erfahrung, die eigenen Sinnstiftungsverfahren beim Betrachten von Film-(Welt-)ausschnitten protokollieren zu können. timedeco schenkt dem Zuschauer nicht nur ein Filmerlebnis der besonderen, weil unwiederholbaren Art, sondern es ermöglicht ihm auch die Erfahrung der Metaebene dieses Filmerlebnisses, die Wahrnehmung der Wahrnehmung sozusagen. Der Zuschauer ist damit nicht nur Regisseur seiner eigenen Filmkomposition, sondern auch Experimentator und Beobachter seines eigenen Tuns.
Was dabei auf interessante Weise hervortritt, ist die Künstlichkeit medientheoretischer Kategorisierungen, die Medienkultur in Bild, Schrift, Zahl, in Musik, Theater, Literatur oder Sehen, Hören, Tasten aufteilen. Dass solche szientifischen Zuschnitte epistemologisch ertragreich sind und sein können, ist unbestritten. Genauso aber ist man mit dem Umstand konfrontiert, dass es Monomedialität nicht gibt. Immer hat man es mit historisch spezifischen Medienarrangements zu tun, mit Intermedialitätsphänomenen. Letztere werden von timedeco auf ganz handfeste Weise erfahrbar gemacht; der Zusammenhang von Sehen und Hören wird hier als medientechnische Verkoppelung vorgeführt. Einerseits wird so daran erinnert, dass die Sinne im Wahrnehmungsprozess nicht zerfallen wie es der medizinische Blick, der ihre Organträger sezierend separieren kann, nahe legt. Andererseits zeigt sich, dass die Spaltung der Sinne mittlerweile kulturell so verinnerlicht ist, dass es technisch erzeugter Situationen bedarf, um latente Intermedialität in offene Erfahrungen umschlagen zu lassen.
timedeco gibt jedem Benutzer seinen eigenen Film, und jeder Film kann sich nur einmal ereignen. Die grundsätzliche Abhängigkeit jedes Rezeptionsvorganges von den Besonderheiten des involvierten Zuschauers/-hörers wird in der Übersteigerung als grundsätzliche erkennbar. Das technische Szenario implementiert die unterschätzte Erfahrung, dass identische Angebote bei unterschiedlichen Nutzern oder zu unterschiedlichen Zeiten nicht zu einem identisch Gesehenen oder identisch Gehörten führen. Die Frage ist, wo diese Erkenntnis hinführt? Erfreulicherweise ist die Installation weit von jeder Naivität entfernt, die aus dem Spielraum des Zuschauer-Regisseurs eine Autonomie des Benutzers von technischen Systemen ableiten wollte. Zu eindeutig ist das Arrangement, welches den Benutzer in ein technisches Setting einbettet, das ihn beobachtet und ihm einen bestimmten raum-zeitlichen Ort im System zuweist. Gleichwohl gibt es zweifellos einen Spielraum, der sich ergibt, wenn die Freiheit des Blickes gegen den Determinismus der Maschine läuft. An ihm wird evident, dass technische Systeme Wahrnehmung und Erfahrung wohl präfigurieren, aber nicht determinieren. Auf medienpraktische Weise werden so theoretische Positionen reflektiert, die in der breiteren Diskussion um die Begriffe Medienwirkung, Manipulation und Medienkompetenz kreisen. Der in time deco eröffnete Spielraum verweist somit auf eine Suchrichtung im Diskurs, die die Einmaligkeit einer Sinneschoreographie mit den Anfälligkeiten der menschlichen Wahrnehmung für Manipulation und Täuschung zu vereinbaren sucht. So legt timedeco seine technische Funktionsweise offen, die den Blick zu einem Auslöser eines technischen Verfahrens macht, und suggeriert gleichsam die "magische" Erfahrung der Macht des Blicks, welche eine stumme Szene in klangvolle Action zu verwandeln vermag.
timedeco liefert also nicht nur eine ästhetische Filmerfahrung der besonderen Art, sondern auch ein ästhetisches Erlebnis: die Erfahrung der Bedingtheit der eigenen Wahrnehmung im Wechselverkehr mit einer technomorphen Umwelt. Besonders klug wurde auf eine Vereindeutigung der Situation zu einem reinen Überwachungsszenario verzichtet. Vielmehr wird die Installation als eine Metapher für das gegenseitig aufeinander bezogene Verhältnis der Kontrolle zwischen Mensch und Maschine verstanden. Damit bietet timedeco eine gedankliche Plattform, nach neuen Formen beiderseitiger Verwiesenheit von Mensch und Maschine zu suchen.

Seminar / Kurzbeschreibung

Das Projekt timedeco ist vor dem Hintergrund mehrerer Seminare zum Themenfeld Medienkultur entstanden (Medien und Wahrnehmung, Medienkritik, Massenmedienkultur). Parallel zu den Seminaren werden von mir verschiedene Medienprojekte (Fotografie, Film, Installation) betreut, die daran arbeiten, medientheoretische Positionen in praktischer Hinsicht zu reflektieren. Projekte wie Seminare verfolgen die Ausarbeitung eines Medienbegriffs, der zum einen einen medienanthropologischen, zum anderen einen medientechnischen Schwerpunkt setzt. Das heißt, dass Medien grundsätzlich als Ermöglichungsformen gesteigerter Erfahrung (Karl Ludwig Pfeiffer) verstanden werden. Sie treten in historisch spezifischen Medienkonfigurationen auf, d.h. in Kombinationen im Modus der Intermedialität. Kulturen verfügen idealerweise sowohl über Medien der Komplexitätssteigerung und Kontemplation wie über Medien der Entlastung und des Spektakulären. Ist die Rezeptionshaltung für ersteres mit hermeneutischen Verfahren weitgehend zu umreißen, werden für letzteres die Erfahrungen von Präsenz und Atmosphäre als Ansatzpunkte verfolgt.

Zuordnung Forschungsbereich

Im Feld der Medien spielen Medientechniken eine herausgehobene Rolle. Im Themenfeld der Medienkultur werden sie vorzugsweise als Apparaturen der Illusionserzeugung und Werkzeuge der Sichtbarmachung bislang unsichtbarer oder sichtbarer, aber unbemerkter Perspektiven und Ausschnitte der Welt diskutiert. Medientechniken sind gleichsam Anordnungen der Vermittlung, die das zu Vermittelnde unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind. In beiden Fällen erweisen sich Medien als ein dazwischenliegendes, in denen sich das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die kulturellen Wahrnehmungsverhältnisse organisieren.
Vor diesem Hintergrund muss das Projekt timedeco als ein avancierter Versuch verstanden werden, medientheoretische Überlegungen mit praktischen Rezeptionserfahrungen zu verbinden.

  • › digital sparks 2003 [link 03]

» http://www.culture.h…erlin.de/fs/timedeco/ [link 04]

  • › timedeco [JPEG | 74 KB ] [link 05]
  • › timedeco in der Entstehungsphase [JPEG | 85 KB ] [link 06]