Anabela Angelovska, Dominik Beck, Alexander Brehm, …

locomotion

Medienkunst auf digitalen und mobilen Ausstellungsflächen in der U-Bahn: Unschärfen zwischen Ort und Bewegung, für die der Name locomotion steht

Nominiert für den
Digital Sparks Award 2002

Digitales MedienNetzWerk

Digitales MedienNetzWerk

Hochschule / Fachbereich

Kunsthochschule Hamburg
Visuelle Kommunikation / Kunst

URL der Hochschule

» http://www.kunsthoch…schule.uni-hamburg.de

Betreuer des Projekts

Prof. Dr. Hans Joachim Lenger

Kommentar des Betreuers

Zu den unverzichtbaren Bedingungen, unter denen sich heute "öffentliche Räume" herstellen, gehört das Paradox ihres Verschwindens. Überall beginnen Insignien des Privaten, Intimen und Vertrauten in ihnen zu wuchern - und nichts könnte dies, nach der Invasion des Handys, besser illustrieren als das Auftauchen digitaler Bildschirme in U-Bahn-Waggons. Sie kündigen eine neue Stufe der Television an. Einst staute das analoge Fernsehen seine Konsumenten in die heimische Privatsphäre zurück, verwandelte das Wohnzimmer in einen medial durchstrahlten und deshalb öffentlich gewordenen Raum. Heute setzt sich diese Entwicklung fort, indem sie sich gleichsam umkehrt. Das "Private" wird ins "Öffentliche" entlassen. So verwandelte das Handy die Intimität des Ferngesprächs in eine öffentlichen Inszenierung, die mit der Zurückgezogenheit des Gesprächs auch eine bestimmte Privatheit des Raum obsolet macht. Genauso löst die Entmachtung analoger Bildmedien durch digitale das Fernsehen auf, indem sie das Fernsehen in eine allgegenwärtigen Größe verwandelt. Räume verschieben sich, indem sie sich ineinander spiegeln, sich invertieren und gegenseitig unterbrechen. Das Öffentliche wird privat, das Private öffentlich; und doch sind beide deshalb weder das eine noch das andere. Vielmehr durchläuft eine Art permanenter Mobilmachung diese neuen, in sich gebrochenen Räume. Unablässig gehen sie ineinander über, den Verlaufsformen medialer Datenströme folgend. Wo sich diese Räume noch voneinander unterscheiden, da scheinen ihre Grenzen nur mehr aus Zitaten vergangener Räume zu bestehen.
Diese Mobilisierung, die nicht zuletzt eine des Publikums ist, ist ohne die der Bilder undenkbar. Sie ist selbst bildlich. Technische Standards machen sie nicht nur möglich, sondern fordern sie heraus. Digitale Bilder sind nämlich an keinen besonderen Ort gebunden. Sie bedürfen keiner spezifischen "Abspielorte", und deshalb kann man heute schon auf Kino und Fernsehen zurücksehen wie auf die Artefakte einer versunkenen Epoche. Digitale Bildtechniken lassen die Bilder an jedem beliebigen Ort auftauchen. In jeden Datenstandard konvertierbar, befreit von den engen Grenzen des Zelluloids oder analoger Video-Standards, können sie auf Computerbildschirmen ebenso aufflackern wie bald schon auf den Monitoren neuerer Handys, auf den Displays kleiner Taschenfernseher ebenso wie auf den Info-Screens, mit denen die Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel zerstreut werden. Ubiquitär geworden, stellen sie auf diese Weise ungeahnte Reisen in Aussicht. Nicht zufällig erfährt Arnold Schwarzenegger in seinem Film Total Recall auf dem mobilen Bildschirm einer U-Bahn von der Möglichkeit einer virtuellen Reise zum Mars, die er dann auch antritt. Jede Reise, jede Ortsveränderung fällt mit jener der Bilder zusammen. Nicht von ungefähr installierte die Telekom auf der Hannoveraner Expo den weltweit größten Digitalbildschirm, um sich dem Publikum als Herrin der Datenströme zu empfehlen. Zwar waren es belanglose Fernsehprogramme, die dann auf diesem überdimensionalen Bildschirm zu sehen waren - Fußballübertragungen etwa, denen sich das Expo-Publikum auch widmete wie den Übertragungen im eigenen Wohnzimmer. Doch darin besteht das Geheimnis. Der T-Digit lässt die Reiseform des Wissens zum digitalen Datenstrom mutieren, der alle Ortsverschiedenheit einebnet. Allein darauf kommt es an. Und nicht anders als diese Bilder von Welt genießen die Reisenden; auch sich als vollendete Abbilder ihrer selbst. Konsequenterweise bleibt in Total Recall bis zum Schluss offen, ob der kantige Held seine Reise zum Mars "tatsächlich" oder "nur" als Bilderfolge genossen hat, die seinem Hirn injiziert wurde.
Das Unentscheidbare, das mit solchen Bildern in der Ökonomie des Visuellen aufbricht, geht unmittelbar aus ihren veränderten Herstellungsbedingungen hervor. Im Computer generiert, haben sie sich von den Gegenständen emanzipiert, die sie vermeintlich darstellen, und von den Orten, für die sie einzustehen scheinen. Genau besehen, kennen diese Bilder gar keine Gegenstände oder Orte mehr, und deshalb kollabiert an ihnen auch das, was man traditionell "Darstellung" nannte. Illustrativen Charakters, illustrieren die Bilder nur sich selbst. Es ist gewissermaßen egal, "was" sie zeigen. Sie erschöpfen sich darin, die technischen Standards ihres eigenen Auftauchens zu kommentieren, an denen sie dann zerfallen. In präziser Weise sind sie sich selbst nur noch Vorwand ihres eigenen Präsent-Werdens. Hauptsache ist ihr Aufblenden und Abblenden, völlig bedeutungslos, ob in den U-Bahnen zwischen den Blenden Nachrichten über die mobilen Screens flackern, ob es Werbespots und Mitteilungen über Haltestellen sind, die auf ihnen hin- und hergeschoben werden, oder ob es sich um belanglose Cartoons handelt, mit denen den Fahrgästen heimgeleuchtet wird. Entscheidend ist allemal die Gegenwart des Bildschirms "selbst", die Reiseform des Visuellen, die sich mit ihm produziert. Denn sie zeigt den Übergang von einem Ort zum andern nur noch an, um die Frage nach dem Ort als einer Differenz zum Visuellen zu löschen. Deshalb produzieren diese Bildtechniken eine Indifferenz, eine Gleichgültigkeit, in der sich ihre Herrschaft vollendet. Der stumpfe, längst apathisch gewordene Blick, mit dem der Fahrgast diese Bilder abzuweisen sich angewöhnt hat, spricht vom Triumph der Gewalt, die diese Bilder selbst ausüben. Längst aber zerstört die Werbung so auch die Intention ihrer Betreiber; sie entzieht ihrer eigenen Wirksamkeit den Boden, schafft gleichsam eine verbrannte Erde.
All dies jedenfalls gehört zu den Ausgangsbedingungen der Künstlergruppe LOCOMOTION, die in der Hamburger U-Bahn einen ganzen Monat lang, den März über, digitale Filme zeigt. Es handelt sich um Arbeiten, die speziell für diese Aktion hergestellt wurden. Heterogen, wie sie sind, beziehen sie sich doch alle auf Fragen des Ortes und der Bewegung, in der sie auftauchen und in der sie untergehen. Dabei treffen die Künstlerinnen und Künstler auf Bedingungen, die ungünstiger kaum sein könnten. Nicht länger als zwanzig Sekunden dürfen ihre Spots sein. Sie erscheinen zwischen Werbefilmen und Cartoons, zwischen Hinweisen auf Haltestellen und jenen Schlagzeilen, zu denen die Nachrichten regrediert sind. Die Künstler müssen mit einem Publikum rechnen, dessen längst stumpf gewordenen Augen alles mögliche zugemutet werden kann, nur keine Aufmerksamkeit. Und dieser Wahrnehmung muss in aller Gedrängtheit nahe gebracht werden, was man eine "künstlerische Argumentation" nennen könnte. Wie aussichtslos dieser Versuch ist, muss nicht betont werden. Doch um so eindringlicher spricht er von der Situation, in der sich die Bilder heute bewegen, und dies allein schon zeichnet das Experiment von LOCOMOTION aus. Denn worauf trifft es? Der kontinuierliche Strom des Visuellen, der mit den digitalen Techniken zur Herrschaft gelangt, macht das Verhältnis von Ort und Bewegung nicht nur virtuell. Inmitten dieser Virtualität lässt er auch extreme Unbeweglichkeiten auftauchen, Körperzustände von äußerster Immobilität, schwarze Zonen einer Wahrnehmung, die längst unter ihrer eigenen Schwerkraft kollabiert ist. In solchen Bereichen intervenieren die Filme von LOCOMOTION. Sie markieren Differenzen, die zwischen Ort, Bewegung und Bildern zum Verstumme gebracht wurden. Denn alle Kunst ist eine der Differenz. Und wenn die digitalen Filme von LOCOMOTION über die stereotyp gewordenen Bildwelten herfallen, dann nur, um sie sich selbst in ihrem Innersten fremd werden zu lassen oder auf Abwege zu bringen, die sie bereits in sich tragen.
Alexander Krussig beispielsweise setzt sich selbst als Fahrgast der U-Bahn ins Bild. Doch unweigerlich erscheint sein Körper deshalb auch in jener Spektralität, die die Bilder auszeichnet - ein animiertes Graphem, das als Gespenst in den Waggons umgeht. Ganz anders, doch eng verwandt Anja Steidinger: ihr Gähnen reizt nicht nur zur Nach-Ahmung, sondern zur Nach-Atmung, die sich als momentane Überbelichtung in jene Bilder einschreibt, von denen das Gähnen ausgeht. Eine ähnliche Selbstunter-
brechung des Visuellen befragen Anabela Angelowska und Christine Klein; sie zeigen Luftaufnahmen Hamburgs, auf die sie den Betrachter wie in einer Bombe herabstürzen lassen: längst besteht die Gewalt von Kriegsbildern nicht mehr darin, diese Gewalt "explizit" zu machen, sondern sie in der Vorstellung des Betrachters oder seiner armierten Wahrnehmung stattfinden zu lassen. Zu Geschossen werden die Embleme der Warenwelt in dem Western von Karsten Ewert: der männlich-weibliche Dialog vor dem Schußwechsel tauscht nur noch Insignien der Werbung aus; aber dies läßt Genres auch interferieren und eine gewisse Ortslosigkeit zwischen ihnen auftauchen. Daniel Hahn und Henry Herrmann lassen diese Ortslosigkeit inmitten völlig geschlossener Aussagen aufbrechen wie der, dass "happiness a German Industrieprodukt" sei oder Inspiration ein German Aktenordner. Alexander Brehm, Ramses Queslati und Jan Silberberger injizieren vollends der Welt des Telefon-Sex jenes Quantum an Nonsens, der sie implodieren lässt: ihr "Party-Schaf" ist tatsächlich über eine 0190er-Nummer zu buchen und biegt so den Unsinn ins Reale zurück. Romeo Grünfelder beschwört in den Bildidyllen der Reiseveranstalter Monstren herauf, die sich nur im Zahlenwert oder im außerirdischen Fremdzeichen, als unlesbare Größe resümieren. Frank Hesse lässt die Comic-Figur CUCU, die aus einer Internet-Bilddatenbank stammt, den Hinweis geben, einige Leute sollten besser mal darauf aufpassen, was sie sagen oder tun. Unspezifiziert, wie dieser Hinweis ist, richtet er sich an niemanden; doch deshalb nomadisiert er nicht nur durch die Bildwelten, sondern durchquert noch sich selbst. Wolfgang Oelze schwenkt langsam über die Fenster eines Bürohochhauses, setzt sie gleichsam in Bewegung und konfrontiert so die Bewegung eines Ortes mit dem Ort einer Bewegung, die fremde Zeiten ins Spiel bringt. Ganz anders, doch dem auch benachbart, Heiko Neumeisters Rekonstruktion eines Aquarells von Paul Klee, das auf einem Grafikprogramm erneut entsteht: Zeiten, Orte und Bewegungen einer klassischen Moderne durchqueren die digitalen Bildgeneratoren, um sich der Frage ihrer Differenz auszusetzen.
Denn Fragen der Differenz und des Ortes oder der Bewegungsweise von Bildern sind Künstlern deshalb vertraut, weil diese Fragen nie wirklich "festgemacht" werden können. Sie brechen nicht erst dort auf, wo es sich um die Paradoxien eines Orts handelt, der auftaucht, weil er verschwindet. Diese Fragen setzen auch nicht erst ein, wo es um den Ort des Museums, um einen öffentlichen Raum, um das Kino oder den Anachronismus von Kunsthochschulen geht. Allen restaurativen Diktaten zum Trotz, mit denen die künstlerische Frage heute erneut auf solche Orte festgelegt werden soll, hat sie ihre eigenen "Bewegungsformen". Sie lässt sich nicht auf Territorien verpflichten und ebenso wenig auf "Medien". So folgt sie den avancierten Materialien "neuer" Technologien und ihrer anderen Räume nicht, weil sie exotisch wären und deshalb Erfolge auf dem Kunstmarkt in Aussicht stellen würden. Vielmehr intervenieren künstlerische Fragestellungen in solchen "neuen" Bildtechnologien, weil sich in ihnen eine spezifische Gewalt freisetzt. Nirgends ist die künstlerische Frage mehr am Platz als dort, wo sie sich solchen medialen Gewalten exponiert. Denn hier wird deutlich, was mit den Bildern auf dem Spiel steht. Ihre Gewalt setzt nicht dort ein, wo sie sich in Szenarien der Zerstörung darstellt. Ebenso wenig macht sich der Voyeurismus, den die digitalen Bilder herausfordern, an so etwas wie expliziten Darstellungen sexueller Handlungen fest. Gewaltsam vielmehr ist, die Bilder zu einem Vorwand ihres eigenen Erscheinens zu machen. Voyeuristisch ist die Transparenz, die Bedeutungslosigkeit, die Maßlosigkeit, mit der die Bilder erscheinen. Denn sie fordern ein Sehen heraus, das jeder Szene entgegengesetzt ist und deshalb im Wortsinn obszön ist: angestrengt starrt es dem Eintreffen einer Bedeutung entgegen, die stets ausbleibt und sich als Erfüllung nur halluzinieren lässt. Und dies bannt zunächst den Blick, um ihn in sich zu kehren bis zur Apathie, zur Fühllosigkeit und zum Erblinden.

Künstlerisch ist, in solchen Gewalten des Bedeutungslosen, im Voyeurismus der obszönen, entorteten Transparenz eine Differenz zu entziffern, die ihnen entgeht. Und deshalb sprunghaft in ihnen umgeht: ganz so, als könne sich hier eine andere Konstellation von Ort, Bewegung und Bild abzeichnen.

Seminar / Kurzbeschreibung

Philosophie der Medien:
Das Seminar Philosophie der Medien orientierte sich zu Beginn des WS 2000/2001 an Paul Virilios Engführung von Medien, Geschwindigkeit und Krieg. Deren Untersuchung konzentrierte sich auf die Fragestellung, in welchem Ausmaß sie von Paradigmen des Sichtbaren geleitet bleibt, aus denen ihr apokalyptischer Ton entspringt. Im Anschluss daran erfolgte die Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien, wobei sich hier die Frage im Vordergrund bewegte, wie sich die Logik der Medien mit einer gewissen Pragmatik der Macht verschränkt, die in sich zirkuläre Formen angenommen hat. Mit Gilles Deleuze wurde gefragt, ob sich die Formation "technischer Medien" nicht in wachsendem Maß einer Grenze aussetzt, die ihr durch ein anderes Dispositiv gesetzt wird: der Technisierung des Biologischen zur "Bio-Power". Mit Carl von Clausewitz wurde der Krieg als technisch-medialer Aspekt und als anderes Mittel zur Umsetzung politischer Ziele reflektiert und im Zusammenhang der jüngsten Ereignisse vom 11. September diskutiert.

Zuordnung Forschungsbereich

Philosophische Ästhetik:
Prof. Dr. Hans-Joachim Lenger lehrt Philosophische Ästhetik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg