Dorcas Müller

Die Erschaffung des Neuros

Künstlerisches Projekt innerhalb der Neurochipforschung des Max-Planck-Instituts

Nominiert für den
Digital Sparks Award 2002

Die Erschaffung des Neuros

Die Erschaffung des Neuros

Inhaltliche Beschreibung

Durch den Artikel "Das virtuelle Augenlicht" (Magazin 2000, Freiburger Zeitung am Sonntag, 1. Januar 2000) wurde ich aufmerksam darauf, dass die ersten sich in Entwicklung befindenden Neurochips - Schnittstelle von Maschinen und Nervenzellen - von einem gewissen Professor Peter Fromherz ausgerechnet mit "Blutegelhirnzellen" hergestellt werden. (Der Blutegel wiederum war bislang auch mein wichtigstes Arbeitsmaterial im Bereich performatives Video und Fotografie.)

"...In der Entwicklung der Neurochips haben Blutegel den Durchbruch gebracht. Im Labor von Peter Fromherz finden sie sich zuhauf. Die glitschigen kleinen Kriecher sind seit einigen Jahren die Lieblingstiere des Biophysikers. In der Arbeitsgruppe von Fromherz, am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, beschäftigen sich etliche Forscher mit den Blutsaugern. Das besondere an den Egeln: Aus ihnen können die so genannten "Retziuszellen" isoliert werden. Mit einem Durchmesser von 60 Mikrometern sind sie für Zellmassstäbe außergewöhnlich gross. Peter Fromherz und seine Mitarbeiter verpflanzten die Nervenzellen auf einen eigens dafür konstruierten Mikrochip. Die hoch empfindliche Siliziumschicht des Chips reagiert auf elektrische Impulse und Veränderungen in ihrer Umgebung. Wann immer die Nervenzellen Signale abgaben, wurden sie von dem Mikrochip registriert. Mit diesem Experiment zu Beginn der 90er Jahre gelang Fromherz, wovon Forscher lange Zeit geträumt hatten: ein erfolgreicher Lauschangriff auf lebende Nervenzellen..."

Durch Kontakt per E-Mail bereits mit Prof. Fromherz bekannt, fuhr ich im Mai 2000 zu einem Gespräch nach Martinsried. Das aus dieser Begegnung resultierende Angebot in seiner Abteilung und mit seinem Equipment Arbeiten herstellen zu können, nutze ich seit Mai diesen Jahres. Jeden Monat arbeite ich eine Woche in Martinsried unter den dortigen Gegebenheiten, inmitten einer wissenschaftlichen "Elite". Mit reicher Beute (Texten, Videos, Fotografien) kehre ich dann nach Karlsruhe zurück und "verstoffwechsle" das Material in den Studios der Hochschule.

So wie der Neurochip selbst Symbol der Verknüpfung von Materialien ist, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, ist auch die Forschungsabteilung von Prof. Fromherz erfrischend heterogen. Wie in den meisten institutionellen Einrichtungen ist fächerübergreifendes Arbeiten im Max-Planck-Institut eher die Ausnahme, Fromherzens Abteilung ist die einzige: Sie verbindet Biochemie und Physik. Gäste sind dort gern gesehen.

Die sich mir neu erschließenden Möglichkeiten sind vielfältiger Art. Das technische Equipment erweitert mein visuelles Spektrum: Durch die unbekannte Umgebung, die aus für mich völlig neuartigen Materialien besteht und durch die Beschäftigung mit den Forschungsprojekten der anderen, entstehen komplexe Eindrücke und ganz neuartige Reize; zudem lerne ich andere Arbeitsweisen kennen. Ein Grossteil meiner Anwesenheit liegt in dem Versuch eines Dialoges mit den Forschern, in der Hoffnung auf ein Gespräch, eine Übersetzung die sich zwischen den Disziplinen entwickeln könnte. Und auch kleinere Episoden gehen in diese Richtung: Beispielsweise werden Arbeitsmaterialien wie alte Neurochipmodelle nicht archiviert. Und so bat ich jemanden um Hilfe mit mir auf "Pirsch" zu gehen, worauf wir zum Vergnügen aller aus sämtlichen Schränken der Abteilung Ferrero-Rocher Schachteln voller Oldtimer-Chips zogen, die später von allen ehrfürchtig begutachtet wurden: Ich baute sie in chronologischer Reihenfolge auf. Die meisten Forscher hatten dies, zu ihrer eigenen Ueberraschung, aus einem solchem Blickwinkel noch nie gesehen.

Da die Grundlagenforschung der Physik auf eine möglichst starke Reduktion der Versuchsanordnung abzielt, fallen hier besonders viele visuelle, aber auch erkenntnistheoretische Überschüsse ab. Ich sitze also wie ein Hund unter dem Tisch des Physikers und schnappe mir die besten Stücke.
Letztlich müssen auch Forscher ihre Ergebnisse irgendwann einmal dokumentieren, vortragen und visualisieren. Und bei solchem Anlass, am 'Tag der offenen Tür', konnte ich mit meiner Arbeit "Die Erschaffung des Neuros" zur Ausstellung beitragen. Es war für mich die Gelegenheit allen einmal Arbeitsproben von mir zu zeigen und die große Frage: "Wo hast du denn Deine Staffelei versteckt?" ausreichend zu beantworten.

Bei aller anfänglichen Euphorie ist es für mich jedoch diffizil und besonders wichtig, nicht den Reizen des vorhandenen wissenschaftlichen Bildmaterials zu verfallen und dieses 1:1 zu verwenden, sondern es als Rohmaterial für meinen Arbeitsweg, für meine Ziele zu nutzen. Mich interessiert das Bedürfnis von Menschen über ihre Sinnesorgane hinaus neue Schnittstellen an ihrem Körper zu schaffen, um über den als minderwertig empfundenen Status quo hinauszugelangen. Mich interessieren biochemische und mechanische Schnittstellen. Stellvertretend beschäftige ich mich (unter anderem) mit Blutegeln, die als den Wirt pflegende Parasiten eine für beide Seiten nützliche Schnittstelle schaffen. Aber auch Akte wie Genmanipulation, die durch temporäre Schnittstellen erfolgen, oder die Verbindung von Maschinen und organischem Material, gehören in meinen Interessenbereich. Insbesondere der Cyberkult ist eine in der Medienwelt sehr umfangreich reflektierte Form dieser Bedürfnisse und Sehnsüchte. Und der Neurochip ist das real existierende Medium - die Schnittstelle. Wie wenig jedoch hat die tatsächliche Forschung mit dem durch die Medienwelt vermittelten Eindruck des biotechnologischen Fortschritts gemein! Durch die Beschäftigung mit der realen Cyborg-Forschung erscheint die Kluft zwischen biochemischer und physikalischer Grundlagenforschung und dem Bild des "Terminators" extrem groß. Angesichts dessen, was ich audio-visuell, sprich virtuell bereits gewöhnt bin, kann ich angesichts der neuesten Forschungsergebnisse getrost sagen: "Na und - ist das alles? Ich dachte das gibt es schon lange!" Multimediale Fortschrittspropaganda hat meine Sichtweise (daher meine Erwartungen) bereits vor dem Eintreffen der Realität geprägt. Ob "real" oder "multimedial" spielt plötzlich keine entscheidende Rolle mehr, da meine ethische Toleranz bereits im Vorfeld behandelt wurde. Durch das Projekt im Max-Planck-Institut kann ich mich nun weiter vom Medienaberglauben entfernen und mich einer Art Exorzismus durch die gegenwärtigen Wissensträger im Bereich "Neurochip" unterziehen.

In erster Linie entsteht daraus Bildmaterial, aber: ich sehe das Projekt auch als Selbstexperiment an. Ich selbst mit meinen Vorstellungen und Wahrnehmungen bilde eine Schnittstelle durch das Eindringen in einen völlig fremden Bereich. (In gewisser Weise bin ich der freundliche Parasit der den Wirt als der [das] exotische Fremde heimsucht.) Der Reiz der Gegenwart liegt für mich in der Verknüpfung sehr verschiedener Bereiche. Dabei ist gerade ein zunächst seltsam erscheinendes Experiment umso fruchtbarer (oder furchtbarer?), da es genau die Bereiche sichtbar macht, die zuvor noch nicht logisch bedacht werden können. Der Ausgang, bzw. die möglichen Fälle des Ausgangs sind nicht gegenwärtig; das Experiment als Abenteuer zur Gewinnung bildhafter Grundlagen.