Robert Seidel

_grau

…Sekundenbruchteile… Experimentalfilm, 10:01 min

Nominee of the digital sparks award 2006

_grau, Still 1

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Content Description

Entstehung

Bei „_grau“ handelt es sich um eine lose Fortführung meiner seit Jahren gefüllten, statischen Skizzenbücher und meiner zwei experimentellen Kurzfilme ("Lightmare" 2001, "E3" 2002) oder besser „lebenden Bilder“.

Ursprünglich als vollkommen abstrakte Auseinandersetzung zu den zwei Einleitungssätzen geplant, hat sich der Film in eine etwas andere Richtung entwickelt. Durch zwei Beinaheunfälle auf der winterlichen Autobahn vom Fraunhofer IGD Richtung Heimat angeregt, wollte ich diese Auseinandersetzung an meinem bisherigen Leben festmachen. Aus dieser fiktiven Finalisierung eines Unfalls entwickeln sich scheinbar abstrakte Bildstrukturen zu Erinnerungsfragmenten eines Lebens, Sekundenbruchteilen einer irreversiblen Entwicklung. Diese persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet dabei sehr zufällig und ungewichtet statt. Kleine Details werden zu großen Momenten, während komplette Jahre verloren gehen.

Bilderwelt

Der Film versucht eine eigene Form- und Bewegungsästhetik zu erschaffen, deren Komplexität sich an der Natur orientiert. Diese dient aber als Orientierungshilfe für ein eigenes, geschlossenes Erinnerungsuniversum. Die Faszination für die Natur und deren unerschöpfliche Vielfalt übt schon seit frühester Kindheit einen großen Einfluss auf mich aus. Seien es Versteinerungen, Kristalle, getrocknete Insekten, Knochen, Herbarien, Tierfilme, der Wunsch Paläontologe zu werden oder eigene Fotografien und Bilder. Die komplexen Struktur- und Farbzusammenhänge haben sowohl meine Biografie (Biologie Leistungskurs, 2 Semester Studium Biologie), als auch mein visuelles Werk geprägt. Dabei standen über die Jahre nicht nur die „reinen“ Naturaufnahmen im Interesse, sondern begeisterten mich auch zunehmend Bilder aus der wissenschaftlichen Visualisierung.

Diese hochtechnischen Prozesse, die mit der versuchten Entzauberung der verzweigten Zusammenhänge noch komplexere Bild- und Wissensstrukturen zum Vorschein brachten, haben in ihren rauschend-definierten Strukturen starken Einfluss auf das Projekt gehabt. Seien es die Verfahren, welche zeitliche Abläufe nachvollziehbarer gestalten (Zeitraffer- und Highspeedaufnahmen, Methoden der Archäologie und Astronomie), in den Mikrokosmos einladen (Fluoreszenz- und Rasterelektronen-mikroskopie), stoffliche Barrieren durchdringen (Röntgen, MRT, Wärmebilder) oder Auswerteverfahren, deren Kurven, Tabellen und Diagramme durch die Filterung klare Muster aus einem scheinbaren Chaos ableiten konnten. Hinzu kommen physikalische und chemische Experimente, die das Durchdringen von Materie, Zeit und Raum zu analysieren versuchen.

Den zweiten großen Einfluss auf die Gestaltung hat die Kunst, allen voran die mehr oder weniger bewussten Surrealisten (Marcel Duchamp, Hieronymus Bosch, Giuseppe Arcimboldo, Max Ernst), die bekannte Objekte in neue Zusammenhänge brachten und ihre Bedeutung so aufluden oder zum Überdenken freigaben. Auch im filmischen Metier sind einige Künstler mit ihrer Vorliebe für skurrile Details, Angestaubtes oder Verschüttetes (Jan Svankmajer, die Gebrüder Quay, Maya Deren) näher an meiner Vorstellungswelt, als bildende abstrakte Künstler (Robert Rauschenberg, Cy Twombly, Jackson Pollock) oder Filmemacher (Oskar Fischinger, Norman McLaren, Stan Brakhage).

Die dritte und gewichtige Komponente ist mein Hauptwerkzeug, der Computer. Auch hier fand eine frühe Auseinandersetzung statt, bedingt durch das Arbeitsgebiet meines Vaters. Die anfängliche spielerische Begeisterung wurde durch eigen-gepixelte Bilder (daher auch das vermeintlich überholte und auch robuste, icon-artige Logo), Basic-Programmierung, Fraktale und letztendlich 3D-Renderings abgelöst.

Umsetzung

Logistisch, technisch und gestalterisch war „_grau“ mein bisher aufwendigstes Unterfangen. Eines meiner Ziele war es, die verschiedenen Erinnerungssedimente organisch-zufällig anzuordnen, ein anderes, das flüchtige Gefühl meiner Skizzenbücher einzufangen. Daher sollte nicht nur digital modelliert und animiert, sondern von realen Vorlagen abgeleitet werden, um mit den darin enthaltenen „Unreinheiten“ dem Bild mehr Leben einzuhauchen. Dazu war es notwendig, verschiedenste Techniken, die mir zumindest aus der Theorie vertraut waren, real auszuprobieren, deren Potential einzuschätzen und gegebenenfalls zu verwenden.

So entstanden rund 120 verschiedene kleine und größere Experimente: Fundament bildeten die Hauptwerkzeuge 3ds max und After Effects. Zusätzlich habe ich nach anderer Software recherchiert, so dass ich aus den Bereichen Fraktale, L-Systeme, zellulären Automaten, Bildrekonstruktion, Voxelgrafik (Voxel: Volumenpixel, in der Medizin benutztes Abbildungsverfahren), chemische Visualisierung sowie Partikel-, Haar- und Flüssigkeitssimulation schöpfen konnte.

Neben diesen Simulationen der Wirklichkeit aus dem wissenschaftlichen und grafischen Bereich, habe ich auch meinen eigenen Körper und reale Gegenstände als Bewegungs- und Formenquelle zitiert. So wurde zum Beispiel ein MRT-Datensatz (Magnet-Resonanz-Tomographie) meines Kopfes herangezogen, diverse 3D-Scans von Kopf, Hand, sowie Plüsch- und Meerestieren ausgewertet, meine Bewegungen mittels Motion Capture aufgezeichnet, meine Wohnung mit einer 3D-Kamera erfasst und mittels VR-Modeller für die Autoindustrie im Raum Freiformflächen entworfen.

Diese Komponenten wurden von den Artefakten der Verfahren befreit, teilweise wurden diese aber auch verstärkt, um die Zerbrechlichkeit der Objekte, aber auch Daten hervorzuheben. Meine bisherigen Erfahrungen mit statistischen Auswertungen, insbesondere im medizinischen Bereich, wurden hier untermauert. Sie führten mir stark vor Augen, dass Messergebnisse nicht selten in ein optimales Wunschmodell gepresst werden, statt der objektivste Stufe, der Messung, wirkliches Gewicht einzuräumen. Neben diesen statistischen Fehlern habe ich, ähnlich wie auch schon in Lightmare, Renderfehlern (sichtbare Polygone, Fehlinterpolation, Flackern) Platz eingeräumt. Diese sind eigentlich im Bereich der Spezialeffekte unerwünscht, tragen hier aber zu dem gebrochenen Rhythmus und einer artifiziellen Komplexität bei. Zudem ist diese Kollage ein persönlicher Lebensabriss, wobei der wichtige Einfluss der Technik auf meine Entwicklung nicht verleugnet werden soll.

Filmlänge

Einige technisch-konzeptuelle Details, beispielsweise die Filmlänge von 10 Minuten und einer Sekunde (10:01) sind auf das von Gottfried Wilhelm Leibniz aufgestellten philosophisch-mathematische binäre Zahlensystem zurückzuführen, dessen alleinige „Extremzustände“ Grundlage der digitalen Datenverarbeitung sind. Um meine Eingangsaussage weiter zu unterstreichen, erstreckt sich das Farb- beziehungsweise Helligkeitsspektrum des Filmes nur zwischen reinem Weiß (RGB-Komponenten 255, 255, 255) und reinem Schwarz (RGB 0, 0, 0), wobei die beiden Pole im digitalen Bild herausgefiltert wurden.

Musikalisches Konzept

Wie auch bei den Bildern steht hier „_grau“ für eine gewisse Neutralität, die mit eigenen Assoziationen des Hörers aufgefüllt wird. Von vornherein war klar, dass die Produktion nicht hyperperfekt sein muss, sondern ideenüberbordend sein soll. Wie beim visuellen Unfall schwingen Musikideenfetzen durch die Gegend, die aus verschiedensten Stimmungen und Erinnerungen geboren wurden, entschwinden, manchmal verweilen sie und sich überlagernde Melodie- und Instrumentschichten fallen auf ein musikalisches Skelett zurück. Teilweise werden hinzugefügte urbane Störgeräusche freigeben, beispielsweise der omnipräsente, dumpfe Klang einer Autobahn, der jegliche Form von Stille ausfüllt. Dabei ist es durchaus gewollt, dass der Betrachter auch auf gewisse Weise verunsichert sein soll, ob gerade ein technische Problem vorliegt oder dies ein Bestandteil des musikalischen Konzeptes ist. Andere Elemente sind beispielsweise zerrissene Chöre, die ähnlich wie in "Lightmare" (D 2001, 4:30min, www.2minds.de) sinnlos schwafelnde oder totenstille Menschenmassen darstellen, die Angst verbreiten und Energie rauben. Rhythmische Teile lösen sich in Synkopen auf, werden von tiefen, das Herz umklammernden Bässen aufgefüllt, um sich im nostalgischen Knistern zu verlieren. Nie wird dabei aber eine gewisse Grundharmonik und –organik durchbrochen, der musikalische Freiraum geht aber sogar so weit, dass Bild- und Tonebene nicht immer dieselbe Skalierung haben, sondern zwei Flüsse sind, die an manchen Stellen auseinander fließen.