Sophie Pester

Stadtkörper

Ein interaktives Video-Puzzle

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Content Description

Das Projekt „Stadtkörper“ entwickelte Sophie Pester im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der Merz Akademie. Im theoretischen Teil beschäftigte sie sich mit der Beziehung zwischen Bewohnern und ihrer Stadt. Egal aus welcher Perspektive sie diese Beziehung betrachtet, die Schlussfolgerung ist immer ähnlich. Die Stadt kann nicht existieren ohne ihre Bürger, die ohne ihre Stadt keine Bürger wären. Diese Abhängigkeit und ihre verschiedenen Facetten thematisiert sie in ihrer praktischen Arbeit. Dabei bringt sie Bewohner der Stadt in Zusammenhang mit bestimmten Orten und Tätigkeiten in der Stadt. Ihre exemplarischen Stadtmotive stammen aus der Hansestadt Bremen.

„Die Stadteile sind die Bausteine der Stadt, aber ohne die Menschen mit ihren Bewegungen und Begegnungen wäre die Stadt nur eine tote Hülle.“

Sophie Pester beschreibt ihre Arbeit wie folgt:
"Um die oben beschriebene Abhängigkeit zu vermitteln, teile ich die inhaltliche Aussage in drei Rezeptionsebenen. Die erste Ebene zeigt das Zusammenspiel der verschiedenen Orte einer Stadt. Unterschiedliche Stadtansichten werden auseinander geschnitten und collageartig zu einem neuen Bild zusammengesetzt.

In der zweiten Ebene wird die Stadt in bewegliche (Personen, Verkehr, Tätigkeiten, Natur) und statische (Architektur, Infrastruktur) Elemente getrennt. Um diese Trennung zu visualisieren, sind die oben schon erwähnten Stadtansichten zum einem in einem Zustand von Ruhe und Veränderungslosigkeit – ohne sich bewegende Objekte – fotografiert. Die Fotos sind schwarz-weiß um ihnen einen zeitlosen Charakter zu geben. Zum anderen ist derselbe Ausschnitt mit einer festen Einstellung über einen gewissen Zeitraum filmisch dokumentiert. Dabei werden sowohl statische als auch mobile Objekte aufgenommen. Die Filmausnahmen sind farbig um ihnen ihre Lebendigkeit zu erhalten. Wird die Filmaufnahme über die Fotografie projiziert, ändert sich der statische Zustand der fotografierten Aufnahme in ein bewegtes Gefüge. Verschwindet die Filmprojektion auf das Foto, erhält dieses sein starres Aussehen, seine „tote Hülle“ zurück.

In der letzten Ebene fokussiere ich den Bewohner des Ortes. Er soll mit einer bestimmten Tätigkeit eine individuelle Atmosphäre erzeugen und als „Gegenschnitt“ zum Stadtbild funktionieren. Diese „Gegenschnitte“ sind Filmaufnahmen, die im Gegensatz zum farbigen Film des Stadtbildes, schwarz-weiß sind, um den inhaltlichen Zweispalt visuell sichtbar zu machen. Beide Aufnahmen, die der Stadtansicht und die der Person, werden nebeneinander gleichzeitig abgespielt. Die visuellen Form wird durch eine Ton- und Textwiedergabe unterstützt. Wie die einzelnen Filme im Detail konzipiert sind, beschreibe ich im nächsten Abschnitt.

Der Aufbau der Installation

Die Foto- und Filmaufnahmen sind mittels einer interaktiven Installation miteinander verbunden. Die Installation besteht aus zwölf Holzwürfeln, die in einem Verhältnis von 3x4 auf einer Grundplatte angeordnet sind. Die Grundplatte gibt ein Raster in diesem Verhältnis vor. So mit ist die Gesamtform der zwölf Würfel vordefiniert. In den Würfel und in der Grundplatte befindet sich ein elektronisches System, das ich im Abschnitt „Technik“ genau beschreiben werde. Anhand dieses Systems kann ein Computer erkennen, welcher Würfel sich in welchem Quadrat des Rasters auf der Grundfläche befindet und welche Seite des Würfels oben liegt. Die Würfel sind Träger der Fotografien. Dazu werden diese auf die Größe der gesamten Fläche der zwölf Würfel gebracht und in zwölf Quadrate zer-schnitten und auf eine Würfelseite geklebt. Da ein Würfel sechs Seiten hat, wird dieser Vorgang mit sechs unterschiedliche Stadtansichten durchgeführt. Das Ergebnis ist eine Art Puzzle, mit dem die Stadtbilder zusammengefügt werden können. Die Gesamtfläche der Holzwürfel dient gleichzeitig als Projektionsfläche für die Filmaufnahmen. Diese Fläche wird durch einen weißen Rahmen unter und rechts neben den Würfeln erweitern. Auf diese Erweiterung werden später die Texte und Personen („Gegenschnitte“) projiziert. Dies geschieht mit einem Projektor, der, über den Würfeln angebracht, von dem Computer gesteuert wird. Dieser Computer ist gleichzeitig an das elektronische System der Würfel angebunden.

Die Interaktion

Die Installation kann vom Benutzer gesteuert werden. Die Holzwürfel sind Interface und Projektionsfläche gleichzeitig. Ich möchte dies an einer beispielhaften Situation beschreiben:

Die Holzwürfel liegen durcheinander (die Fotoausschnitte ergeben kein stimmiges Bild einer Stadtansicht) in dem Raster auf der Grundplatte. Der Beamer projiziert den Ausschnitt des Filmes, der das Foto auf dem Würfel zeigt. Es entsteht eine Collage aus zwölf verschiedenen Fotoausschnitten und ihren dazugehörigen Filmausschnitten. Jedes der sechs gefilmten Stadtbilder hat einen Ton, der ebenso collageartig zu hören ist. Je mehr Würfelseiten des gleichen Stadtbildes oben auf der Projektionsfläche zu sehen sind, umso klarer wird die Audiospur. Liegen viele verschiedene Ausschnitte der sechs Stadtbilder oben, ist der Ton nur noch als Rauschen zu ver-nehmen.

Wenn der Benutzer die Würfel zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen „gepuzzelt“ hat, läuft der dazugehörige Film ab. Dazu werden nun auf die Rahmenflächen um die Würfel die „Gegenschnitte“ und der Text zum Stadtbild projiziert. Der Benutzer hört auch einen zum Film passenden Sound.

Dreht der Benutzer einen Würfel um, verschwindet diese Projektion um die Würfel und es werden wieder die verschiedenen Filmausschnitte auf die Fotoausschnitte projiziert. Der klar definierte Sound verwandelt sich wieder in ein Rauschen.

Die Motive

Die sechs verschiedenen Motive sollen Ansichten einer Stadt sein. Die Stadt, in der meine Motive entstehen, ist die Hansestadt Bremen. Ich möchte sechs unterschiedliche Atmosphären zeigen, die weitläufig in der Stadt verteilt sind.

01: Das erste Stadtbild ist Tenever. Die Plattenbauten galten in den 70er Jahren als wegwei-sende Wohnform des modernen Menschen und wurden von der Bevölkerung positiv angenommen. Heute sehen die Lebensbedingungen ganz anders aus. In Tenever leben gut 6000 Menschen aus 88 Ländern. Etwa 70 Prozent der Bewohner/innen sind Migranten/innen: gut ein Drittel Aussiedler/innen (mit deutschem Paß), ein weiteres Drittel Ausländer/innen; der Rest sind deutsche Staatsbürger. Die Arbeitslosenzahl ist hoch, die Angebote an Bildungs-, Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten sind sehr gering. Die Intention der Motivsuche war, das Bild die Dimensionen und die Eintönigkeit dieses Stadtteils darstellen zu lassen. Die Plattenbauten sind aus einer überblickenden Perspektive aufgenommen und stehen als „Riesen“ in der sonst flachen Umgebung. Es scheint keine Sonne. Die Architektur wirkt sehr trist. Der Film zeigt keine auffallende Bewegung. Ab und zu fährt ein Auto über den Parkplatz oder ein Schwarm Tauben fliegt von einem Dach auf ein nächstes. Die „Gegenschnitte“ bestehen aus einem Interview mit zwei 17jährigen Mädchen, aus spielenden Kindern und aus Nahaufnahmen der Architektur. In dem Interview reden die beiden Mädchen über ihr Leben in Tenever - wie sie da aufgewachsen sind, wie ihre Freizeit aussieht, welche Probleme sie haben und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Spielende Kinder sieht man in Tenever überall. Sie stellen den Zwiespalt in Tenever dar. Auf der einen Seite sind sie die Zukunft des Stadtteils. Auf der anderen Seite bietet Tenever ihnen nichts – keine Freizeit- oder Bildungsmöglich-keiten. Sie sind unschuldig an der heutigen Situation aber vollkommen machtlos daran etwas zu ändern. Die Nahaufnahmen der Plattenbauten sollen sie Verletzlichkeit und die Armut dieses Viertels symbolisieren. Die Texte, die unter das Stadtbild projiziert werden, sind Informationen zur Entwicklung des Ortsteils.

02: Die zweite Stadtansicht ist der riesige Industriekomplex der Stahlwerke Bremen. Die schwarzen Schornsteine und Öfen ragen weit in die Höhe und sind kaum zu übersehen. Die Inten-tion des Bildes war es, ein Bauwerk zu zeigen, das trotz seiner Ferne visuell immer bei den Bewohnern der Stadt präsent ist. Das Stahlwerk liegt direkt an der Weser. Im Film wird das Gelände von der gegenüberliegenden Flussseite gezeigt. Die Weser funktioniert als eine Grenze zwischen dem Betrachter und dem Werk. Es fahren Schiffe durchs Bild, Schwäne schwimmen vorbei. Die filmische Aufnahme ist ein Zeitraffer, dadurch bekommt das Bild mehr Bewegung und Dynamik. Der Betrachter ist im Gegensatz ein Mann, der in der Weser angelt und auf die Stahlwerke blickt. Er liest in Ruhe eine Zeitung und bewegt sich kaum. Im Hintergrund dreht sich ein Windrad. Der projizierte Text ist eine Frage aus meinem theoretischen Text: Wenn sich die Bürger und die Stadt gegenseitig bedingen und beide füreinander unabdingbar sind, aufgrund welcher Bedürfnisse werden die wirklich wichtigen Entscheidungen im Stadtraum getroffen?

03: Die dritte Ansicht zeigt den Domplatz. Der Blick ist aus einem Torbogen gerichtet. Dieser rahmt den Ausschnitt des Platzes. Der Betrachter hat nur ein begrenztes Sichtfeld. Es ist Sonntag Nachmittag, die Sonne scheint. Bewohner und Besucher der Stadt bevölkern die Innenstadt. Es herrscht ein lebhaftes Treiben auf dem Domplatz. Straßenbahnen fahren vor-bei. Die „Gegenschnitte“ dieses Bildes zeigen drei obdachlose Personen. Eine Frau sitzt auf der Straße und bettelt, ein Mann versucht Zeitungen zu verkaufen und ein anderer Mann läuft mit seinem Hab und Gut in Plastiktüten durch die Stadt. Die Texte dieses Filmes werden nicht gelesen, sondern nur auf die einrahmende Projektionsfläche geworfen. Es sind Fragen zum Thema Heimat und Besitz und stammen aus dem Buch „Fragebogen“ von Max Frisch.
- „Wie viel Heimat brauchen Sie?
- Was macht Sie heimatlos?
- Können Sie sich ohne Heimat denken?
- Können Sie sich erinnern, seit welchem Lebensjahr es Ihnen selbstverständlich ist, dass Ihnen etwas gehört, bzw. nicht gehört?
- Wie stellen Sie sich Armut vor?“

04: Das vierte Stadtbild ist eine Aufsicht auf den Platz von dem Hauptbahnhof. Die Bahngleise ziehen sich im Hintergrund von rechts nach links durch das Bild. Das Bahnhofsgebäude und der Haupteingang, der Bus- und Straßenbahnhof sind im Mittelpunkt. Eine Hochstraße und eine Kreuzung rahmen das Bild im Vordergrund. Die Aufnahme ist ein extremer Zeitraffer, der aus dem 15 Stockwerk eines Gebäudes aufgenommen wurde. Die Menschen und Verkehrsmittel sind klein wie Ameisen ergeben durch die hohe Bewegungsgeschwindigkeit Linien im Bild. Als „Gegenschnitt“ habe ich wartende Personen im Gewühl dieses Bahnhofsplatzes gefilmt. Sie sitzen oder stehen und ab und zu fährt eine Bahn oder einen Bus an ihnen vorbei. Sie verschwinden kurz aus dem Bild, sind aber am Ende immer noch an der gleichen Stelle. Manchmal sieht man die Person auch durch die Fensterscheiben der vorbei fahrenden Verkehrsmittel. Beide Bilder strahlen eine Hektik aus, aber gleichzeitig hat das Bahnhofsvorplatz auch eine gewisse Gleichförmigkeit und Beständigkeit. Die wartenden, sich kaum bewegenden Person stehen mit den vorbeifahrenden, das ganze Bild ausfüllenden Bahnen im Kontrast. Der Text stammt von Eberhard Rumbke:
„Manchmal
mittendrin
so wie jetzt
sehe ich überrascht auf
und finde mich an diesem Ort
frage mich, ob man hier jemals
ankommen kann.
Oder besteht der Reiz nicht vielmehr darin
dass man hier niemals ankommen wird
und insofern
ständig unterwegs ist
auf dem Sprung?“

05: Das fünfte Bild zeigt den Hinterhof eines zerfallenen Hauses. Die Aufnahme soll einen „leeren Ort“ symbolisieren, d.h. einen Ort, dem keine genaue Funktion oder Bedeutung gegeben und der keiner bestimmten Stadt zugewiesen werden kann. Laut Sieverts ist dieser namenslose Platz der „Ort irgendwo“. Er ist das Gegenteil des „prominenten Ortes“.Der Text zu diesem Bild stammt in Auszügen ebenfalls von Sieverts:
Aus der Welt der erschlossenen Informationen stellt sich am namenlosen, wilden Ort erstmal Langeweile ein. Das, was auf uns zukommt, können wir nicht lesen. So tritt zur Langeweile Irritation. Erst nach einer Weile beginnt sich die Welt um uns herum zu füllen. Leere Räume sind notwendig um zu interpretieren und sich zu erinnern. Die Gegenschnitte diese Aufnahme zeigen im Detail die Verwahrlosung des Hauses: altes Spielzeug liegt in einer Regenpfütze, Tauben, die im Haus nisten, fliegen aus einem eingeschlagenen Fenster usw.

06: Die sechste Ansicht der Stadt ist der Space Park Bremen, ein Indoor-Erlebnispark zu den Themen Raumfahrt und Weltall. Der Bildausschnitt zeigt die hintere Fassade des Gebäudes. Die Fassade zeigt drei, nach hinten versetzte, rote Wände. Davor steht ein Nachbau der Ariane-Rakete und die dazugehörige Abschussrampe. Im Bild ist jedoch nur die Abschussrampe zu sehen. Im Vordergrund des Gesamtbildes ist der riesige Vorplatz des Space Parks zu sehen, auf dem ein kleiner, jedoch unbenutzter Vergnügungspark für Kinder steht. Der Film ist ein Zeitraffer, der diesen Ausschnitt von Helligkeit bis Finsternis dokumentiert. Wolken ziehen am Himmel über das Gebäude, aber keine Menschen bevölkern diesen Platz. Nur ab und zu bewegen sich ein paar Personen durch das Bild. Im Großen und Ganzen ist der Platz völlig unbelebt und widerspricht seinem früheren Vorhaben. Die „Gegenschnitte“ sind hier keine Personen. Das ist, im Hinblick auf die anderen Filme, eine Aus-nahme und soll die unbelebte Atmosphäre des Ortes widerspiegeln. Statt der Personen sind die leeren Gondeln der Karusselle im Vergnügungspark zu sehen. Der Film wird von einem treibenden und doch monotonen Rhythmus begleitet. Im Hintergrund sind spielende Kinder und die quietschenden Geräusche der Karusselle zu hören. Der eingeblendete Text besteht aus nüchternen Informationen und Zahlen zum Projekt „Space Park Bremen“.
- 26 Hektar Gelände
- 11 Jahre Planung und Bau
- 650 Millionen Euro Gesamtkosten
- 600 Mitarbeiter in der Projektgruppe
- 44 000 Quadratmetern unvermietete Einzelhandelsfläche
- 300 Angestellte im Space Park
- 1,3 Millionen geplante Besucher im Jahr
- geöffnet für ein halbes Jahr