Niels Knolle

Perspektiven innovativer Unterrichtsarbeit

Theoretischer Hintergrund zum Projekt: Me[i]mus

Musikmachen im virtuellen Tonstudio: Gesangsaufnahme zum MIDI-Playback

Musikmachen im virtuellen Tonstudio: Gesangsaufnahme zum MIDI-Playback

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Content Description

Die Schwelle des Zugangs zur musikalischen Praxis des Home-Recordings ist für Jugendliche weitaus niedriger als die zur Hausmusik auf einem akustischen Instrument, etwa dem Klavierspielen. Die produktive Vielseitigkeit der neuen Musiktechnologien hat die Grenze zum Musikmachen fließend werden lassen und ihren Aufforderungscharakter, sich auf das Erfinden von Musik einzulassen, vergrößert.
So bedarf es keines „externen” Lehrers, denn die benötigten Informationen besorgt man sich im eingebauten oder beiliegenden Tutorial, beim Musikhändler, in den einschlägigen Fachmagazinen mit ihren Workshops auf CD-ROM oder per „musikalischer Nachbarschaftshilfe” .
Die computerbasierte Musiktechnologie des „Home-Recording” erlaubt einen individuellen Ausbau der Module je nach musikalischen Bedürfnissen und finanzieller Lage. Die technologische Vielseitigkeit des Home-Recording-Equipments ermöglicht einen im Vergleich zum akustischen Instrument freier bestimmbaren Umgang mit den eigenen musikalischen Ideen und mit der Technologie selbst.

Medienpädagogisches Selbstverständnis des Musikunterrichts:
Die Entwicklung der neuen Musiktechnologien und der von ihnen geprägten Formen des Umgangs mit Musik im Freizeitbereich stellen für den Musikunterricht einerseits eine musikkulturelle Herausforderung dar, sie lässt sich zugleich aber auch als eine medienpädagogische Chance verstehen, die es zu nutzen gilt. Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass der Einsatz von neuen Medien und Musiktechnologien nicht Selbstzweck ist, sondern nur dann erfolgt, wenn mit ihrer Hilfe für die SchülerInnen Handlungsperspektiven und Erfahrungen eröffnet werden, die auf andere Weise entweder nicht adäquat oder überhaupt nicht im Unterricht zugänglich gemacht werden können. Die Konzeption des Unterrichts muss also so angelegt sein, dass die Einbeziehung der neuen Medien didaktisch legitimiert ist und somit dieses „Werkzeug” auch in der Wahrnehmung der SchülerInnen lediglich als methodisches Mittel zu einem musikalisch-praktischen bzw. sachanalytischen Zweck eingesetzt bzw. erfahren wird.
Im Blick auf die neuen Medien als praktischer Handlungsbereich und analytischer Gegenstand muss der Musikunterricht sich einem dreifachen pädagogischen Anspruch stellen:
1) Der Unterricht soll die SchülerInnen in qualifizierender Weise zum selbstbestimmten produktiven Gebrauch von Kultur anregen und eine Steigerung ihrer musikalisch-praktischen Kompetenz bewirken.
2) Der Unterricht soll die SchülerInnen sensibilisieren für die Subjektivität und Emotionalität ästhetischer Entscheidungen und ihre Versprachlichung.
3) Der Unterricht soll sie anleiten zur emphatischen und zugleich kritischen Reflektion bezüglich der Erscheinungsformen und Bedingungsfaktoren von musikalischer Kultur unter dem Zeichen technisch vermittelter Globalisierung.


Neue Medien als Werkzeug
Medien stehen dem Musikunterricht schon seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Verfügung: als Papier mit Texten und Partituren, als Filmmaterial mit stehenden und bewegten Bildern, als Schallplatte und Tonband mit Musikaufnahmen etc. Für die Zwecke der Präsentation und Dokumentation von musikalischen Sachverhalten sind diese „alten” Medien aber nur in begrenztem Umfang zu gebrauchen, weil ihre Inhalte nicht miteinander vernetzbar und für den Nutzer nicht veränderbar sind. Mit dem Multimedia-Computer sind diese Limitierungen aufgehoben: Texte, Bilder und Töne lassen sich - in einem einzigen Medium, dem Computer - simultan erzeugen, verändern, speichern, transportieren und präsentieren. Und wichtiger noch: Infolge der synästhetischen Wahrnehmung von klanglicher und bildlicher Erscheinung kommt es zu einer Intensivierung und Differenzierung des Hörens über das simultane Verfolgen der mitlaufenden visuellen Informationen.
So können beispielsweise die SchülerInnen am Beamer mit den Ohren verfolgen, wie in der Fugenpartitur die farbig gekennzeichneten Themeneinsätze nacheinander einsetzen [vgl. Struktur Fuge im MIDI-Sound.wav] . Hier können die SchülerInnen anhand der Programm-Oberfläche sehen, wie die Fuge formal aufgebaut ist.
Die visuelle Darstellung im Sequenzer-Programm CUBASE zeigt vier Pianisten, die die Melodie des Regentropfen-Preludes von F. Chopin jeweils im Tempo unterschiedlich gestalten: Links sieht man jeweils die Skala des Tempos in beats per minute (bpm).
Interpretation des Spielers 3 [vgl. Chopin interpretiert.wav] (Aufnahme am MIDI-Flügel, wiedergegeben mit dem Soundmodul „VST Grand Piano” der Fa. Steinberg)

Das Verhältnis der Notation zur Interpretation dieses Stücks durch den Spieler 3, wenn sie spielzeitgetreu durch den Sequenzer dargestellt wird. Auch hier werden Bild und Ton simultan wiedergegeben
Im Vergleich dazu die notengetreue Wiedergabe [vgl. Chopin notengetreu.wav] durch das VST Grand Piano in der Stellung durch das Programm CUBASE.
Siehe dazu auch die Unterrichtseinheit Musikvisualisierung

Neue Medien als Musikinstrument
Beim Musikmachen mit den neuen Medien fungiert der Computer als ein virtuelles Studio mit virtuellen Musikinstrumenten: Mischpulte, Effektgeräte und Instrumente stehen innerhalb eines einzigen Programms in einer klanglichen Qualität zur Verfügung, die auch professionellen Ansprüchen gerecht wird, zugleich aber für Schulen bezahlbar ist.
Diese neuen Musiktechnologien sind einfach zu handhabende Instrumente für alle SchülerInnen. Sie eröffnen den interaktiven Zugang zur analytischen wie auch musikpraktischen Auseinandersetzung mit Musik. Denn ihre Nutzung verlangt nicht die Beherrschung eines in der Regel nur längerfristig zu erlernenden akustischen Instruments oder spezifischer musikalischer Fähigkeiten wie das Notenlesen.

Ein neuer analytischer Zugang zur Musik:
In unterrichtsmethodischer Hinsicht stellt das Arbeiten im virtuellen Tonstudio gerade für die musikalisch nicht erfahrenen SchülerInnen eine große Chance dar, weil sie am Computer über das sinnlich konkrete, optische und hörende 'Hantieren' mit den einzelnen Materialien auf spielerische und experimentierende Weise den Zugang zu Werken etwa der historischen Kunstmusik oder der Avantgarde finden können. Bislang konnten die SchülerInnen die Musikstücke nur über das konzentrierte Hören von CDs oder über das Lesen von komplexen Partituren erschließen. (Vgl. hierzu die Unterrichtseinheiten Sacre HipHop und Musikvisualisierung)

Der musikpraktische Zugang - Komponieren, Arrangieren:
Ähnlich wie bei der professionellen Musikproduktion können die SchülerInnen in Arbeitsgruppen mit Hilfe der virtuellen Musikinstrumente und der Klangbearbeitungsmöglichkeiten des virtuellen Studios selbst komponieren und eigene Arrangements gestalten - auf experimentelle Weise oder auch in der Adaption szenetypischer Ansätze wie des Playback-Verfahrens.

Nichtlineares Arbeiten:
Die neuen Musiktechnologien ermöglichen bezogen auf die analytischen wie auch die produktiven Zugänge zu Musik gegenüber den herkömmlichen Unterrichtsverfahren auf der Basis der analogen, alten Medien eine qualitativ bedeutsame didaktische Innovation: das nichtlineare Arbeiten.
Sämtliche Parameter der Einspielungen sind realtime oder in der Nachbearbeitung editierbar und die klanglichen Zwischenergebnisse z.B. des sukzessiv entstehenden Aufbaus einer Songstruktur lassen sich sofort als „Momentaufnahmen” abspeichern. Daher kann der Lehrer die fortlaufenden Stadien der analytischen bzw. kompositorischen Arbeitsprozesse auch im Nachhinein zum Gegenstand im Unterricht machen, indem die jeweils tragenden musikalischen Entscheidungen im Hinblick auf das Endergebnis einerseits und andererseits auf ihre materialen Voraussetzungen hin befragt werden können.

Rückkopplung von Idee und Realisation:
Diese Möglichkeit zum nicht-linearen Arbeiten gibt den SchülerInnen die Chance, in der Rückkopplung von kompositorischen Ideen und ihrer unmittelbaren klanglichen Überprüfung in der Arbeitsgruppe ihre Fähigkeiten zum strategischen musikalischen Denken weiter zu entwickeln. Mit anderen Worten: Die Wege der Wissensaneignung bzw. der gestalterischen Arbeit an kulturellen Objekten sind nicht mehr durch die Lehrkraft vorgegeben, sondern diese Wege entstehen gleichsam beim Gehen im Kontext der Interessen- und Arbeitssituation in der Gruppe.

Neue Medien als musikkulturelles Thema
Die Nähe der Medien und insbesondere der neuen Musiktechnologien zur musikkulturellen Lebenswelt der Jugendlichen und ihre Auswirkungen auf die kulturellen Erscheinungsformen des Umgangs mit Musik im Freizeitbereich machen sie zu einem in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Themenfeld eines kulturkritisch orientierten Unterrichts. So bietet es sich beispielsweise an, mit den SchülerInnen den Einfluss der medientechnischen Reproduktion von Musik auf die künstlerische Interpretation im historischen Rückblick bis hin zur Gegenwart aufzuarbeiten. Mit den Möglichkeiten der klanglichen Nachbearbeitung des eingespielten Tonmaterials kann die Lehrkraft aufzeigen, wie sich die spieltechnischen Ansprüche an die Interpreten an einem Zwang zur Perfektion und Realisation musikalischer Fehlerlosigkeit auf der CD orientieren und so zu einer neuen Klangästhetik führen. Und umgekehrt: Mit den soundtechnischen und visuellen Erfahrungen der medialen Rezeption von Musik verändern sich im privaten Bereich auch die Funktionen und Gebrauchswerte im Umgang mit Musik, da jegliche Musik zu jeder Zeit, an jedem Ort, durch jedermann seitens der HörerInnen verfügbar geworden ist. Der Umgang mit Musik wird damit zu einem für den Musikunterricht interessanten Sozialisationsfaktor .