Dieter Daniels

Der Multimedia-Paragone

"Der Wettstreit der Künste" in der zeitgenössischen Medienkunst

Standard-Icon

Standard-Icon

Inhaltliche Beschreibung

Die Geschichte der Avantgarde-Bewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts ist eine Folge von ständigen Innovationen, deren jede das zuvor gerade Erreichte erneut zu übertrumpfen versucht. Sie läuft damit parallel zum hohen Fortschrittstempo der Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Medien in dieser Zeit. Eines der wesentlichen Motive für die schnelle Entstehung neuer künstlerischer Ausdrucksformen ist die wechselseitige Beeinflussung und Überschneidung der etablierten Gattungen. Während in der Renaissance der Paragone, d. h. der Wettstreit der Künste untereinander, ein Motor ständiger Weiterentwicklung ist, so zeigt sich für die Moderne anstelle der Konkurrenz eher eine Interferenz der verschiedenen Gattungen als Auslöser für Innovationen.
Der Kubismus macht den alten Streit zwischen Skulptur und Malerei überflüssig, indem er mit der Collage und Objektmontage eine neue, ebenso pikturale wie skulpturale Zwischenform findet. Für den Futurismus, den Dadaismus und den Surrealismus ist es vor allem die Interferenz zwischen Literatur und bildender Kunst, die ständig neue Impulse gibt. Die Manifeste der Futuristen eilen mit ihren utopischen Forderungen der künstlerischen Praxis weit voraus. Ebenso wie die Dadaisten verschmelzen sie Literatur, szenische Darstellung und bildende Kunst zu ihren bekannten Soireen. Der Surrealismus entsteht als eine literarische Bewegung und die von den surrealistischen Poeten entwickelten Verfahren wie der Automatismus oder der ?cadavre exquis? werden dann erfolgreich in die Malerei und Collage oder Frottage übertragen.
Ein weiteres wichtiges Moment, das die gesamten Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts durchzieht, ist der enge Zusammenhang der Innovation technischer Verfahren mit den neuen künstlerischen Ausdrucksformen und Inhalten. Der schnelle Fortschritt der Technik ist sowohl Mittel wie Thema. Der Kubismus integriert mit Vorliebe Ausschnitte aus Zeitungen, dem damals beherrschenden Massenmedium, in die Collagen. Im Kontext des Dadaismus entstehen der abstrakte Film und die Fotomontage. Die russischen Konstruktivisten entwerfen Agit-Prop Stände mit Radio-Lautsprechern und Redner-Tribünen mit Film-Projektionen. Oft scheint es so, als suche die künstlerische Avantgarde den direkten Wettstreit mit dem die gesellschaftliche Veränderung bestimmenden Innovationstempo von Technologie und Medien.
Vielleicht ist seit Ende des 19. Jahrhunderts der Paragone von Kunst und Technik zum Teil an die Stelle des Wettstreits der Künste untereinander getreten, jedoch nur um gerade bei der künstlerischen Arbeit mit neuen Techniken die Interferenz unter den Gattungen um so deutlicher zu machen. Zu den meisten Missverständnissen führt dabei immer wieder die unlösbare Frage von ?Henne oder Ei?, d.h. ob die technische Innovation erst die künstlerische nach sich zieht, oder die kulturellen Veränderungen die Voraussetzung für die Entstehung neuer Technologien bilden. Gerade in ihrer Unlösbarkeit ist diese Frage im heutigen Kontext der Medienkunst und ihrer Stellung in einer technologisch bestimmten Mediengesellschaft von grosser Aktualität.
Blicken wir unter diesem Aspekt einmal auf die Anfänge der Video- und Medienkunst in den 1960er Jahren. Die Ausgangssituation für die Entstehung der Videokunst war nicht: ?Es gibt jetzt Videogeräte, also müssen wir nun auch Videokunst machen.? Vielmehr stand am Anfang die Idee einer intermedialen oder synästhetischen Kunstform, die ganz unterschiedliche Medien miteinander verknüpft und zu der Video nur ein Beitrag unter vielen anderen darstellt. Es ist die Zeit von Happening, Fluxus, Environments und ?expanded cinema? einerseits und von elektronischer Musik andererseits. Über all dem schwebt die Idee des ?Gesamtkunstwerks?, aber ohne jedes wagnersche Pathos. Es ging um eine alle Sinne aktivierendes Kunstwerk, außerhalb der traditionellen Gattungen und Institutionen, welches eben weder in den Konzertsaal, noch ins Museum oder die Bibliothek gehört, sondern das mit neuen Mitteln auch ein neues Publikum ansprechen soll. Der beste Begriff für dieses Umfeld ist immer noch ?Intermedia-Kunst?, geprägt von Dick Higgins. Daß dann hinterher daraus ?Die Medienkunst? oder ?Die Videokunst? geworden ist, als eine neue Gattung unter anderen Gattungen, kann man zurecht als ein defizitäres Phänomen kennzeichnen.
Innerhalb dieser Intermedialität hat die Elektronik von Anfang an eine wesentliche Rolle gespielt. Die zentrale Person für diese Einführung der Elektronik in das intermediale Geschehen ist John Cage. Andere Vertreter der elektronischen Musik, wie z. B. Stockhausen oder Boulez, sind in ihrer Wirkung mehr auf die Kategorie der Musik beschränkt geblieben, während Cage wirklich intermedial ausgestrahlt hat und für Musik, Bildende Kunst, Happening usw. gleich wichtig war.
In seinem Klassiker ohne Töne, dem Stück 4?33" aus dem Jahr 1952 will Cage uns die Ursprünglichkeit, die Totalität des Hörens wiedergeben, die Musik nicht von Nebengeräuschen trennt. Ausserdem hat er auf die enge Verbindung von Akustischem und Optischem aufmerksam gemacht und das Moment der Aktion in die Musik eingeführt. Wir bleiben ja in unserer Aufmerksamkeit auf den Ausführenden fixiert, da wir von ihm aber nichts mehr zu hören bekommen, sehen wir ihn auf einmal als Schauspieler. Cage hat also gleichzeitig ein Theaterstück geschrieben. Er hat damit die Grundlage für Happenings und Performance-Aufführungen geschaffen, und man bedenke: ein Großteil der frühen Videotapes sind Performances vor der Kamera.
Das Stück 4?33" steht in direktem Zusammenhang mit Cages enger Beziehung zu bildenden Künstlern. Hier sind neben Marcel Duchamps Ready-mades vor allem Robert Rauschenbergs auch um 1952 entstandene White Paintings zu nennen, auf die Cage selbst ausdrücklich als Inspiration verweist. Man bedenke nun, dass Cage ebenfalls 1952 sein bis dahin aufwendigstes elektronisches Musikstück Williams Mix schafft, in das er neun Monate Klebearbeit von Tonbandschnippseln anhand einer grafischen Partitur für nur 4.30 Minuten Musik investiert. In beiden Stücken erhält Musik eine sozusagen ?plastische? Dimension: 4?33" ist ein immer neu zu füllendes Segment der Geräusche in Raum und Zeit, dass vor allem die Sensibilität der Zuhörer transformiert. Der Fluxuskünstler George Brecht hat hierfür später den Begriff ?virtuoso listener? geprägt. Williams Mix hingegen löst die Musik aus ihrem Schwebezustand zwischen der Zeichenhaftigkeit der Notation und der Vergänglichkeit der Interpretation um statt dessen elektromagnetisch gespeicherte Toninformation wie ein plastisches oder graphisches Material in diffiziler Handarbeit zu montieren. Diese beiden Stücke von Cage aus dem gleichen Jahr 1952 und von fast gleicher Länge verkörpern in idealtypischer Weise die Dialektik zwischen der Reinheit des blossen Konzepts und der Mühsal der technologischen Umsetzung, welche die gesamte Geschichte der Verbindung von Kunst und Technik bis heute begleitet. Übrigens führt Guy Debord gleichfalls 1952 in Paris einen Film ohne Bilder auf, völlig unabhängig von Cages Musik ohne Töne. Und des weiteren verwendet William Burroughs in den 1960er Jahren ähnliche Tonbandmontagen wie Cage zur Generierung neuer Literaturformen.
Dies zeigt die überraschenden Parallelen zwischen den intermedialen Tendenzen, die aus den jeweiligen Gattungen hervortreten. Doch die Interferenz der Gattungen zu einer synästhetischen Kunst hatte, wie schon angedeutet, viel früher. Nicht nur in Hinblick auf die Verbindung von Literatur und Kunst kann man auf die genannten Entwicklungen von Futurismus und Dada verweisen, auch Bild und Klang werden in den Lautgedichten mit neuer Typografie verbunden. Die noch fast impressionistischen Geräuschbilder Umberto Boccionis führen bis zu den Geräusch-Musik-Maschinen Luigi Russolos. Noch früher findet sich die Rechtfertigung der abstrakte Malerei durch ihre Nähe zur Reinheit der Musik bei Kandinsky und Picabia. Auch die zahlreichen Versuche und Apparate zur Schaffung einer Farbenmusik seien erwähnt. Und für die Musik könnte man auf Erik Saties Musique d?ameublement verweisen, die nicht die volle Aufmerksamkeit von ihren Zuhörern fordert, sondern Möbelmusik heißt, weil sie wie ein Möbelstück im Raum präsent ist ? man kann mal hinhören, aber auch wieder weghören, so wie man bei einem Ding im Raum hinsehen und wegsehen kann. Auch hier erhält Musik eine plastische Dimension. Erik Satie hat dann konsequenterweise 3 Stücke in Birnenform geschrieben. Ebenso lässt sich Burroughs Tonband-Poesie in die Entwicklung neuer literarischer Techniken von Stephane Mallarmé bis zu den Surrealisten einreihen.
Aber der entscheidende neue Schritt, der in den 50er/60er Jahren vollzogen wird, besteht darin, dass mit der Elektronik all diese intermedialen Ansätze erstmals ihr adäquates Ausdrucksmittel finden. Denn diese synästhetischen Tendenzen waren weitgehend in Vergessenheit geraten, und die Bewegungen vom Anfang des 20.Jahrhunderts sind erst fünfzig Jahre später wieder als historische Vorläufer entdeckt worden. Man war fast überrascht, dass es so etwas schon einmal gegeben hatte. In den 1990er Jahren vollzieht sich heute unter ähnlichen Vorzeichen eine Wiederaufnahme von Ansätzen der 1960er Jahre. Die digitale Technologie macht viele Prozesse selbstverständlich, die Künstler vor dreißig Jahren nur mühselig erzeugen konnten ? man vergleiche Cages Tonbandschnippsel mit der heutige Sampling-Technik.
Nam June Paik, heute allgemein als Grossvater der Videokunst anerkannt, setzte genau dort an, wo Cage aufhörte. Paik begann ein Studium in klassischer Komposition und kam über die elektronische Musik, die er zum Beispiel im damals führenden Experimental-Studio des WDR Köln kennenlernte, schließlich auch zum Interesse am elektronischen Bild. Erst erfolgt also die Hinwendung zur Elektronik und dann der Schritt von der Musik zum Bild. Die Elektronik bildet im Fall Paiks ganz offenkundig die Verbindung zwischen den Gattungen, auch wenn Paik nicht wirklich in dem intermedialen Zwischenbereich geblieben ist und heute schliesslich doch als Künstler statt als Musiker erfolgreich ist.
Wie eng die Entstehung der Videokunst mit Cage und Fluxus zusammenhängt, zeigt die Entwicklung von Cages Kompositionen mit Steinen oder Gummibändern im Klavier zu den modifizierten Klavieren, wie sie Paik und eine ganze Reihe von Fluxus-Künstlern geschaffen haben. Die Veränderung eines Klaviers durch äussere Eingriffe lässt sich direkt mit Paiks modifizierten Fernsehapparaten vergleichen, die am Anfang der Videokunst stehen, und bei denen er zum Beispiel das Bild durch einen Magneten verzerrt. Das prepared piano von Cage und das participation TV von Paik stehen in derselben Tradition, und beide wählen einen Kultgegenstand des bürgerlichen Haushalts, Klavier bzw. Fernsehapparat ?,um seine Funktion radikal zu verändern. Konsequenterweise hieß Paiks berühmte, mittlerweile fast mythische erste Ausstellung der Videokunst, die 1963 in der Wuppertaler Galerie Parnass stattgefunden hat Exposition of Music ? Electronic Television. In dieser Ausstellung wird die Verbindung von Musik und Bild durch die Elektronik in idealtypischer Weise vorgeführt. Paik klebte Tonbandstreifen auf eine Fläche, die man dem aus dem Gerät herausgelösten Tonkopf eines Tonbandes abfahren sollte. Dadurch erzeugte man im?random access?, also im beliebigen Zugriff und je nach der Geschwindigkeit, mit der man nun das Band abtastet eine neue Komposition. Das gleiche Prinzip wandte er auch auf Schallplattenspieler an. Heute würde man von ?interaktive Technologie?sprechen. Ebenso hat Paik Fernseher modifiziert, indem er ein Tonband als Impulsgeber an die Bildsteuerung anschloss und somit Tonsignale direkt in Bildmodulationen umgesetzte. Oder er hat anstelle des Tonbands ein Mikrofon angeschlossen, so dass die Besucher durch Geräusche abstrakte Muster auf dem Bildschirm erzeugten. Der Bezug zu den synästhetischen Ansätzen vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist ganz deutlich.
Paik übersetzte Cages Ansatz von der Musik in das elektronische Bild. Mit dem Konzept des ?random access? fügt er jedoch auch eine entscheidende Dimension hinzu: An die Stelle von komplexen, zufallsbestimmten Kompositionen tritt die spontane, direkte Interaktion des Benutzers mit dem Klang- und Bildmaterial. Paiks Schallplattenschaschlick von 1963 ist in diesem Sinne das Vorbild für die Techniken der 1990er, die von ?Scratching? bis ?Techno? durch die individuelle Bedienung des Abspiel-Apparats die Musikkonserve nur noch als Rohmaterial verwenden.

Um nun einen Sprung aus der Geschichte in die Gegenwart zu machen: Meine These ist, dass wir heute bereits in unserem Alltag ?intermedial? leben ? dass die Visionen der Intermedia-Kunst vielleicht gar nicht in der Kunst erfüllt wurden, sondern fast unbemerkt zum Bestandteil des täglichen Lebens geworden sind. Was zum Beispiel Satie als Musique d?ameublement bezeichnet hat, könnte man bei der heute zumindest in den USA und Japan üblichen Art Fernsehen zu schauen, als ?Television d?ameublement? bezeichenen; also dass der Fernseher wie ein Möbelstück im Raum steht und die ganze Zeit vor sich hin plärrt. Er wird so wahrgenommen, wie Satie sich das mit seiner Musique d?ameublement vorstellte: Indem man ab und zu schon mal hinschaut, sich dann aber auch wieder davon abwendet, während der Ton weiterläuft. Das Fernsehen ist kein Träger von Botschaften mehr, sondern verbreitet nur eine Atmosphäre im Raum. Die ?Muzak? die uns in Kaufhäusern berieselt, wird zum Grundmuster der medialen Wahrnehmung.
Daß wir mittlerweile so diffus schauen können, wie wir ursprünglich zu hören gewohnt sind, führt dazu, dass die Musik auf das Bild angewiesen ist, um noch die Bewusstseinsschwelle zu überschreiten. Kein Hit mehr ohne Clip ? Musik muss sich mittlerweile visualisieren, um noch zu einem identifizierbaren und damit kaufbaren Produkt zu werden. Der Musikclip ist eine Konsequenz aus unserem intermedialen Alltag. Zurecht singen die Buggles in einem ihrer Hits video killed the radio star. Der Sieg des Fernsehens über das Radio ist zugleich eine Anpassung der visuellen Wahrnehmung an die akustische.
Die Gegenhaltung zum ?TV d?ameublement? ist die Aktivierung des Zuschauers durch das Zapping, welches durchaus dem Spiel mit der Tonkonserve beim Scratching vergleichbar ist. Die aktuelle Ausweitung der interaktiven Multimedia Technologie auf alle Medienbereiche (CD-ROM, Internet, interaktives Fernsehen) lässt sich in dieser Hinsicht auch als eine Rückgabe der Verantwortung an denjenigen verstehen, der nun zugleich als Zuschauer/Zuhörer/Leser auftritt. Schon die Frage, wie man denn diesen Benutzer nun bezeichnen soll, zeigt wie, stark in diesem Bereich eine Überschneidung der Gattungen stattfindet. Paik hat ja schon 1963 das Participation TV proklamiert, allerdings ging das damals nur durch elektronische Eingriffe in das Gerät, denn ansonsten stand in Deutschland nur ein einziger Fernsehkanal zur Verfügung ? dem Normal-Verbraucher statt des Zapping nur der Ein/Aus Knopf blieb.
Im Rückblick geraten die künstlerischen Entwürfe seit den Dadaisten und Futuristen bis zur Intermedia-Kunst aus dem Umkreis von Cage und Paik zu Antizipationen unseres heutigen intermedialen Lebens. Der Weg von Saties Musique d?ameublement und Luigi Russolos Intonarumori über Cages Williams Mix und Paiks Schallplattenschaschlik zum Sampling und Techno-Sound zeigt exemplarisch, wie im Kontext der Avantgarde Antizipationen zukünftiger Massenkultur möglich sind.
Die Fähigkeit zum audio-visuellen Multitasking, die bei jedem Multimedia PC angepriesen wird, haben die Benutzer schon längst: Walkman hören während das TV läuft und dabei auf dem Computer schreiben, bis das Telefon klingelt ist eine gängige Kulturleistung geworden. Paik hat schon in den 1963 darauf hingewiesen, dass langweilige Hollywoodfilme interessanter werden, wenn man dazu im Kino ein billiges Transistorradio laufen lässt.
Soweit es die Veränderung der Wahrnehmungshaltung betrifft, war die Idee einer intermedialen Kunst also prophetisch. Trotzdem gibt es bis heute keine wirklich intermedialen Stars: Laurie Anderson konnte nur auf Kosten ihres Künstler-Images in die Hit-Charts aufsteigen und Brian Eno ist es nicht gelungen, als Pop-Star eine dauerhafte Anerkennung mit seinen Videoinstallationen in der Kunst zu finden. Nur in der permanenten Ambivalenz von ?High & Low? wie sie Andy Warhol verkörpert, ist ein ungestraftes Spiel zwischen den Gattungen möglich. Es steht ausser Zweifel, dass die Vision einer Aufhebung der Gattungen innerhalb der Kunst als ?Hochkultur? gescheitert ist. Wesentliche Gründe dafür liegen in der grossen Beharrlichkeit der etablierten Institutionen und ihrer anerkannten Legitimationsfunktion sowie in der konservativen Grundtendenz der ökonomischen Strukturen des Kulturlebens: Der Kunstmarkt gehorcht anderen Gesetzen als das Musikgeschäft.
Doch gerade diese Abhängigkeit von wirtschaftlichen Faktoren könnte in Zukunft die genau umgekehrte Wirkung haben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die künstlerische Avantgarde aller Gattungen weitgehend ausserhalb kommerzieller Maßstäbe. Erst seit den 1960ern wird Gegenwartskunst zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor. Die Vorreiterrolle kommt der Pop-Musik zu, die als erste expilzit anti-traditionelle zeitgenössiche Kunstform zu industriellen Dimensionen des Umsatzes aufgestiegen ist. Medienkunst und Sound Art konnten, gerade weil sie zwischen den Gattungen und damit zwischen den Märkten stehen, relativ lange den nicht-kommerziellen Charme bewahren.
Auch die Multimedia Technologie hatte in den 1960er Jahren noch die Unschuld eines nicht-kommerziellen Experimentierfelds. Mittlerweile ist sie statt dessen zum grössten Investitionsgebiet und Hoffnungsträger für Wirtschaftswachstum geworden. ?Multimedia? wurde 1995 zum ?Wort des Jahres? gewählt. Es lässt sich jedoch prognostizieren, dass die Digitalisierung von Bild, Ton und Schrift zu einer Verschmelzung ehemals getrennter Medien führen wird und am Ende der Entwicklung ein einziges Supermedium für alle Informationen steht. Eine neue Dimension von Intermedialität wird somit zur Basis der zukünftigen Massenkultur.
Schließlich bleiben nur noch Fragen:
Realisiert sich die in der Avantgarde entworfene Interferenz der Gattungen heute mit der Verschmelzung der entsprechenden Technologien sozusagen automatisch, aber ausserhalb der Kunst?
Haben die Antizipationen der Avantgarde eine zukünftige Lebensform imaginiert, welche sich in der zeitgenössischen Entwicklung der Medien schon abzeichnete, aber erst Jahrzehnte später die Breitenwirkung einer gesellschaftlichen Veränderung erreicht?
Oder ist es sogar so, dass die künstlerischen Visionen und die technischen Innovationen gemeinsame Wurzeln haben und Teil desselben kulturellen Bewusstseinswandels sind, welcher erst zu der Entwicklung der entsprechenden Medientechnologien führt?
Wird also die Verbindung der Märkte gemeinsam mit der Verschmelzung der Medien zur Aufhebung der Gattungen führen ? und wenn ja, wer hätte dann den Paragone gewonnen: Die Vision der Kunst oder die Realität der Technologie?
(Dieter Daniels)