Dieter Daniels

Die Einfalt der Vielfalt

Ein fiktives Selbstgespräch

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Inhaltliche Beschreibung

A: Musikclips sind meiner Meinung nach das Endprodukt einer langen Entwicklung: die vollständige Umsetzung von Musik in Bilder ist ein Traum, der sich durch die ganze Kunstgeschichte zieht. Schon Leonardo wünschte sich, daß man Bilder auch hören könne. Die Mona Lisa hat er bei Musik gemalt. Ich finde, Clips kommen in ihren besten Beispielen dem Ideal der Visualisierung von Musik sehr nahe.
B: Man kann aber den Musikclip nicht auf einer rein ästhetischen Ebene diskutieren. Nur weil die Clips reichlich bei der Kunst geklaut haben, darf man sie doch nicht gleich selbst für Kunst halten. Clips sind zunächst einmal Werbung. Die Verbindung von Musik und Bild hat hier nicht die Verbindung zweier Kunstformen zum Ziel, sondern die Verbindung zweier Märkte. Sie ist eine vom Marketing bestimmte Zweckgemeinschaft. Unabhängig von allen ästhetischen Idealen war es ein Muß für die Musikbranche, ihr Produkt fernsehverwertbar zu machen. Das Radio wurde seit den 50er Jahren völlig vom Fernsehen als Massenmedium Nr.1 verdrängt. Video killed the Radio Star heißt ein Song von den Buggles. Deshalb sollte man Clips statt in die Kunstgeschichte eher in die Entwicklung der Werbung einreihen. Hier haben sie wirklich eine ideale Verbindung geschaffen, wie sie in der Werbung immer schon angestrebt wurde: die Identität von Message und Produkt. In Clips wird das Produkt nicht wie in den meisten Werbespots als Objekt in einem Rahmen oder als Angebot in einer Story präsentiert, sondern die Musik ist das Produkt selbst. Außerdem werden die Clips, die ursprünglich nur für die Musik werben sollten, selbst zum Produkt. In den USA läuft das Geschäft schon gut, Michael Jacksons Thriller verkaufte sich als Videokassette über 750 000 mal. Das ist doch ideal: die Werbung kostet nichts mehr, sondern bringt Gewinn.
Oft ist die Schwierigkeit guter, einfallsreicher Werbung, daß sie besser in Erinnerung bleibt als das Produkt. Sie verliert die notwendige Verbindung mit dem Objekt, für das sie wirbt. Zum Beispiel ist Len Lyes Film Rainbow Dance von 1936 als abstrakter Musikfilm mit Choreographieelementen besser als viele Clips heute. Daß er als Werbefilm für eine Geldanlage bei der Post entstand, wird erst am Schluß deutlich und hat mit dem Film nicht viel zu tun. Solche Probleme stellen sich beim Clip nicht, hier muß nicht noch eine Message angehängt werden, damit der Konsument auch weiß, was er kaufen soll. Er kann alles, was er sieht und hört, auch haben.
A: Daß Clips Werbung sind, schließt aber doch nicht aus, daß sie ein ästhetisches Ideal verwirklichen. Werbespots sind eine Vorstufe zu dem, was mit Clips möglich geworden ist. Die visuelle Kraft der Werbung ist mindestens seit der Pop-art von der Kunst erkannt. Die Beeinflussung von Kunst und Werbung beruht auf Gegenseitigkeit. Für den normalen Betrachter, der sich nicht in der Branche von Werbeagenturen und Clipproduzenten auskennt, sind dies anonyme Produkte. Das ist historisch gesehen mit der Volkskunst zu vergleichen. Vor Leonardo, in der Kunst des Mittelalters, war der Künstler vor allem Handwerker, der ganz hinter dem Werk zurückstand. Sein Bild und seine Skulptur waren Beitrag zum Ganzen, zur Kathedrale. Kunst war eine Auftragsarbeit, sie fügte sich einem Zweck und entstand nicht nur aus dem Bedürfnis des Künstlers heraus oder als Ausdruck persönlicher Probleme. Das ist ein Aspekt der Idee des Gesamtkunstwerks: Der Künstler wird letztlich unwichtig vor der Universalität des Werks.
B: Also der Musikclip als die Kathedrale des 20. Jahrhunderts? Das geht mir nun doch zu weit. Wenn der Musikclip unbedingt historisch abgeleitet werden soll, dann liegt eine Verwandtschaft zur Oper doch viel näher. Die Oper war in ihrer volkstümlichen Bedeutung auch einmal ein kommerzielles Unternehmen, bevor sie heute zum Subventionsspektakel geworden ist. Mozarts Zauberflöte zum Beispiel hat durch ihren finanziellen Erfolg Emanuel Schikaneders Theater gerettet. Die Zauberflöte war außer durch die einzigartige Musik auch durch ihre effektvolle Inszenierung ein Erfolg, denn ihre Geschichte ist ja eigentlich ziemlich trivial. Die Storys bleiben sich über die Jahrhunderte erstaunlich ähnlich, von Tamino und Pamina zu den Boy-meets-Girl-Songs von heute. Das Publikum will vor allem viel Spektakel, ob nun Bühnenzauber in der Oper oder künstlicher Nebel durch Stroboskoplicht beim Rockkonzert und schließlich die elektronischen Effekte im Musikclip – wichtig ist der optische Reiz.
A: Es besteht aber ein entscheidender Unterschied zwischen dem Clip und der Live-Aufführung. Jede Aufführung ist eine Kommunikation mit dem Publikum, auch wenn dies heute beim Popkonzert auf ‘clap your hands’ reduziert ist und zumindestens in der deutschen Oper auf den Pflichtapplaus. In Italien ist das schon ganz anders, da geht es in der Oper zu wie im Fußballstadion.
Der Clip hat eher einen Objektcharakter als einen Aufführungscharakter. Deshalb ist für seine visuelle Form auch die bildende Kunst wichtiger als Theater und Oper. Wenn schon nicht die Kathedrale, so ist vielleicht eine Turmuhr dem Clip vergleichbar. ja, die mechanische Spieluhr ist der eigentliche Vorläufer des Musikclips. Sie war das erste Mittel zur Reproduktion von Musik ohne ausführende Musiker. Dasselbe Musikstück kann beliebig oft wiederholt werden und wird dabei von einigen abwechselnd auftretenden Figuren mit immer derselben Bewegungen begleitet – alles genauso wie im Clip. Ein mit dem Synthesizer konstruiertes Musikstück wird zu einer Sequenz von Computeranimationen – das ist ein möglicher Endpunkt der Entwicklung des Musikclips: die elektronische Spieluhr.
B: Aber der gängige Clip benutzt keine anonymen Figuren, sondern ist extrem auf die Person des Musikers ausgerichtet. Die Kamera ist auf den Darsteller fixiert, der in 1000 Einstellungen und Fahrten bei wechselnden Schauplätzen und Kostümen ins Objektiv lächelt. In der Choreographie agiert nicht der Akteur im Raum vor der Kamera, sondern die Kamera umrundet den Akteur. Gerade bei einfallslosen Clips und schlechten Darstellern fällt das drastisch ins Auge. Wie gesagt: der Clip schafft die Identität von Message und Produkt und setzt ebenfalls Produkt und Person gleich. Die ideale Gleichung des Clips lautet: Message = Produkt = Person. Slave to the Rhythm von Grace Jones verkörpert diese Gleichung in faszinierender Perfektion: Mindestens fünf Werbespots mit Grace Jones für Citroen, Kodak, Limonade, Jeans und Sekt sind das Grundmaterial dazu kommen als Stills die Fotos, die Grace Jones’ Bild bekannt gemacht haben, und Ausschnitte aus ihren alten Clips. Eine Biografie in Commercials. Grace Jones als Person und Produkt, als Fotomodell, als Sängerin, als Werbeträger und als Message, wer will da noch nach der Grenze von Kunst und Kommerz fragen?
Hier werden zwei alte Methoden der Werbung zusammengeführt: Die eine ist die Verknüpfung eines Produkts mit einer Person, wie zum Beispiel der Tchibo-Onkel oder der Mann, der sich in den 50ern im Dienste der Werbung die Hände mit Boraxo-Seife wusch und der heute Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Die andere Methode ist, das Produkt zum Darsteller zu machen, zum Beispiel in Oskar Fischingers Muratti greift ein, ein Werbefilm von 1936. Hier werden die Zigaretten zu einer aufwendigen Choreographie animiert, richtige Massenaufmärsche des verselbständigten Produkts in Szene gesetzt, so zwischen ‘Kraft durch Freude’ und Esther Williams. Das ist ein wirklicher Vorläufer des Clips.
A: Der Star ist doch ein völlig entindividualisierter Mensch, eine Person, die fast so synthetisch ist wie eine Computeranimation. In Peter Weibels Spot für die Zigarettenmarke Casablanca genügt die Silhouette eines Mannes mit Mantel, Hut und Zigarette, um Humphrey Bogart zu bezeichnen, ein Bogart-Logo, um mit Weibels Worten zu sprechen. Die einzigartigen Prototypen für die Medienperson waren Elvis und Marilyn. Nicht zufällig werden gerade sie bei Warhol zum Objekt vielfacher Reproduktion. Elvis und Marilyn lassen alle Kategorien hinter sich und werden zu einem medialen Gesamtkunstwerk als Musiker, Schauspieler und sogar Schriftsteller. Sie repräsentieren keine bestimmten künstlerischen Leistungen mehr, sondern sind nur noch Transportmittel des eigenen Images. Warhol hat als Künstler selbst diesen Trend für die 80er gezeigt: Der Künstler ist wichtiger als die Kunst, er sieht lieber ein Foto von sich als von einem seiner Werke. Warhol wußte, wo es langgeht, und ist auch einer der Väter des Musikclips, mit seiner Einstellung und mit seinen Filmen – und er war bis zum Schluß immer noch dabei, so hat er z. B. an einem Clip von den Cars mitgemacht.
Die synthetische Medienperson à la Elvis und Marilyn ist eine Entwicklung der 50er und wurde möglich durch die Verbreitung des Fernsehens. Sie ist aber nicht nur eine kommerzielle Notwendigkeit, sondern auch Ausdruck eines neuen Bewußtseins von Öffentlichkeit, das von der Kultur bis in die Politik reicht. Und hier ist die Kunst wieder einmal das sensibelste Anzeigeinstrument: Seit den 50ern erschließen Künstler den Multimediabereich. Aber im Gegensatz zur kommerziellen Nutzung der Medien sind sie auf der Suche nach einer neuen Authentizität. Als Media-Happening und Videoperformance geht es um den direkten Kontakt mit dem Publikum. Die Body-art setzt dem immateriellen elektronischen Bild eine drastische Körperlichkeit entgegen. Partizipation ist das Stichwort, nicht Einweginformation, sondern die Aufhebung der Grenze von Produzent und Publikum. Der Künstler stellt keine statischen Werke mehr her, sondern wird zum Akteur und nimmt damit eine Entwicklung vorweg, die erst heute ihre ganze Tragweite zeigt.
B: Eine Entwicklung, die im Endeffekt zum Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht führte. Sie konnte die Mechanismen. von Kunstpräsentation, Vermarktung und Publicity nicht ändern. Kunst ist nicht demokratisch, die Marktstrategien fassen nicht, wenn jedermann als Künstler auftritt. Die Öffentlichkeit der Medien rückt zwangsläufig die Person ins Zentrum. Der Künstler als Akteur, der Musiker als Schauspieler – am Ende steht doch wieder das fertige Produkt für den zahlenden Konsumenten: als Live-Show, Art- oder Musikclip, egal, ob der Star nun aus dem Kunst- oder Showbusiness kommt, ob er Laurie Anderson oder Grace Jones heißt. Die besten Performer sind ohnehin längst die Politiker. Populärkultur und Avantgardekultur haben sich parallelentwickelt und gleichzeitig die Medien erschlossen. Das Multimedia-Prinzip funktioniert für die Kunst und für den Markt. Der Star ist der Multimedia-Künstler par excellence. Für Kunst und Popkultur führte der Weg von Musik und Malerei über den Live-Auftritt bzw. die Performance zur Show und über die Dokumentation von Auftritten zum reinen Videoprodukt, jenseits aller traditionellen Kategorien.
Wenn überhaupt, dann hat die Popmusik seit den 50ern vor allem eines von der Avantgarde übernommen: Provokation als das sicherste Mittel zum Erfolg. Das reicht vom Elvis’ Hüftschwung bis zu den langen Haaren der frühen Beatles, die uns heute wie Brave-Jungen-Frisuren vorkommen, und bis zur Provokation als Selbstzweck bei den Sex Pistols. Die Provokation der Avantgarde richtete sich auch gegen den Vermittlungsapparat von Kunst, sie versuchte, die Grenzen von Institutionen, Museen und Galerien zu sprengen, den Apparat zu hintergehen, die Marktprinzipien zu verleugnen oder zu pervertieren. Da liegt The great Rock’n’ Roll Swindle von den Sex Pistols doch auf derselben Linie. Und wenn man einige Produkte des neofigurativen Zynismus in der Malerei sieht, z. B. wenn Oehlen Hitler malt, ist das eine ähnliche Bemühtheit in der Aufrechterhaltung der Provokation, als wenn sich bei Frankie goes to Hollywood Reagan und Breschnew zwischen die Beine fassen. Überall dasselbe SchemA: Provokation als Protest gegen das System wird vom System assimiliert und zur Umsatzsteigerung eingesetzt.
Man macht die Künstler doch zu falschen Propheten, wenn man die ganze heutige Mediengesellschaft zum Gesamtkunstwerk verabsolutiert. Die praktische Anwendung von Gesamtkunstwerkkonzepten á la Wagner auf die gesellschaftspolitische Realität wurde schon nach ’33 in Deutschland probiert. Dazu gehörte es auch, daß erstmalig die politische Wirksamkeit der Medien vom Volksempfänger bis zu den Anfängen des Fernsehens erprobt wurde. Wenn man sich die Wochenschau ansieht, die zur Musik von Liszts Préludes präzise geschnittene Bilder des Angriffs auf Sewastopol zeigt, hat das immer noch eine enorme Wirkung. Hier wurde die Synchronität von Bild- und Musikstruktur zum ersten mal wirklich effizient eingesetzt, das Ergebnis ist heute noch besser. als viele Musikclips. Frei nach Bazon Brock würde ich da sagen: “Die Kunst braucht Utopien, aber wehe, wenn sie verwirklicht werden.”
A: Utopien streben immer nach Verwirklichung. Seit den 50ern wird die Frage nach der Grenze von Kunst und Leben neu gestellt. Aktionskunst, neue Musik, Happening, Fluxus, Multimedia- und Videokunst, die Künstler reagieren mit ihren Möglichkeiten auf die Veränderung der Gesellschaft. Len Lye und Fischinger haben zwar formalästhetisch den Musikclip vorbereitet – aber die Veränderung des Bewußtseins in der Mediengesellschaft findet woanders ihren adäquaten Ausdruck. John Cages Stück 4’33" von 1952 nimmt einen Großteil der Problematik des Musikclips vorweg. Wie der Name sagt, dauert das Stück vier Minuten und 33 Sekunden. Der ausführende Musiker setzt sich an das Klavier, öffnet den Tastaturdeckel, schließt und öffnet ihn nach dem ersten und zweiten Drittel und schließt ihn am Ende wieder. Kein Ton wird gespielt, man hört nur die Geräusche im Raum, das Publikum etc. Sowohl die Länge von viereinhalb Minuten als die Struktur der dreifachen Wiederholung, des Refrains, entsprechen dem Musikclip, auch hier wird der Ausführende zum Darsteller, der Musiker zum Schauspieler. Der grundlegende Unterschied liegt in der Rolle des Publikums. Bei Cage besteht eine maximale Offenheit gegenüber der Beteiligung des Publikums. Das Stück gibt nur den Rahmen vor, das Publikum füllt ihn durch seine Geräusche mit Inhalt. Beim Clip ist der Partizipationsgrad des Zuschauers gleich null. Er muß sich nicht zum Aufführungsort bewegen, ja nicht einmal eine Platte auswählen und auflegen, nur einschalten und stillhalten. Cages Stück ist ein kollektives und kommunikatives Erlebnis, das dem Publikum seine Rolle als Publikum bewußt macht. Der Clip wendet sich an den einzelnen als rein rezeptiven Faktor. Zur selben Zeit, als Cage diese Überlegungen umsetzte, prägte Marshall McLuhan die Unterscheidung von kühlen Medien mit einem hohen Beteiligungsgrad und heißen Medien mit einem niedrigen Beteiligungsgrad. Hier gibt es also deutliche Zusammenhänge von technischer Entwicklung, Theoriebildung und künstlerischer Umsetzung.
B: Solche theoretischen Verbindungen muß man gar nicht ziehen. Sehen wir die Sache doch einmal ganz banal: Musik ist ursprünglich immer visuell, die Gestik der Musikanten, die Bewegung, der Tanz, all das gehört zum volkstümlichen Musizieren einfach dazu, Erst im 18. und 19. Jahrhundert wird Musik zum rein akustisch-ästhetischen Gebilde. Das Publikum sitzt still in den Reihen des Konzertsaals, die Musiker erscheinen alle im einheitlichen Anzug – ein feierlicher Ritus. Die Reproduzierbarkeit von Musik durch Schallplatten leistete den Rest, Musik war kein einmaliges und ganzheitliches Erlebnis mehr. Ungefähr gleichzeitig mit der Schallplatte entsteht Anfang des 20. Jahrhunderts der Film, der zunächst als Stummfilm von einem Live-Pianisten begleitet wird. Ton und Bild sind technisch noch nicht gemeinsam zu verarbeiten. Ab den 30er Jahren setzt sich dann der Tonfilm auf breiter Ebene mit durchschlagendem Erfolg durch. Nach dem Krieg, seit den 50ern, öffnet eine finanzkräftige Jugend einen neuen Markt, es entfaltet sich zum erstenmal auch in Film und Musik eine Jugendkultur. Tanzengehen und Kino, das sind doch die zwei wichtigsten Freizeitvergnügen seit mindestens 30 Jahren. Eine Kombination von beidem wird durch die Videotechnik möglich, eine ganz logische Konsequenz, bei der der kommerzielle Erfolg vorprogrammiert ist. Die Kultur wird eben ganz wesentlich von der Entwicklung der Technik und von Marktprinzipien bestimmt.
A: Es soll ja auch nicht behauptet werden, daß nur die Kunst die Welt verändert. Aber Kultur, Technik und Wirtschaft stehen doch in einem wechselseitigen Verhältnis, Kultur läßt sich nicht aus kommerziellen und technischen Veränderungen ableiten. Technische Innovationen entstehen nicht zufällig, sondern zumeist, weil ein bestimmtes kommerzielles Interesse dahintersteht. Gerade hinter der Videotechnik steht eine langjährige gezielte Entwicklung, und das Interesse an ihr leitet sich aus einem Bedürfnis ab, das seine Wurzeln im Kulturellen hat. Die größten Entdeckungen bleiben ungenutzt, wenn sie nicht auf eine kulturelle Situation treffen, die ihre Verwirklichung ermöglicht. Und hier lassen sich in der Kunst oft sehr früh Vorboten späterer Entwicklungen ausmachen.
Die Idee des Gesamtkunstwerks strebt auch die zeitliche Totalität an. Man will keine zeitlich begrenzte Aufführung mehr, sondern eine Permanenz, die die Zeit des Werks der Erlebniszeit des Publikums angleicht und so Jede Einschränkung und Zeitstruktur aufhebt. Das reicht vom fast zwanzigstündigen Ring der Nibelungen über Saties 840 mal zu wiederholende Vexations bis zum 24-Stunden-Happening. Beim Musikclip besteht dieselbe Situation: Der einzelne Clip hat keinen zeitlichen Rahmen, in den drei Minuten kann ein einziger Blickwechsel gedehnt werden oder ein ganzes Leben vorbeiziehen, Vergangenheit und Zukunft verschmelzen zu einem Punkt. Die Realität des Clips ist außerzeitlich. Zudem prallen die verschiedenen Zeitstrukturen von Bild und Musik aufeinander, der akustisch notwendige Refrain ist optisch nicht adäquat umsetzbar. Das Ergebnis ist meist ein durchgängiger Beat mit Häckselschnitten, eine rein numerische Synchronität, die jeden zeitlichen Spannungsbogen, jedes Crescendo aufhebt. Entscheidend ist beim Clip, wie bei den angeführten Beispielen aus Musik und Kunst, die Gesamtheit, die den Rahmen jeder Aufführung oder Fernsehsendung aufhebt: Musikclips rund um die Uhr, 24 Stunden MTV auf zwei Kanälen aus jedem Kabelanschluß. Das ist wie fließend warmes und kaltes Wasser auf allen Etagen. Solch außerzeitliche Musikformen hat der Fluxuskünstler George Brecht schon 1959 imaginiert: Drip Music, einfach ein tropfender Wasserhahn als Musik. Auf diesem Weg ist auch der Musiker Nam June Palk zu Video gekommen. Sein TV-Buddha von 1976 ist das Sinnbild des Musikclip-Konsumenten; sowohl die Reduktion in Paiks Close-Circult-Installation als die Redundanz von 24 Stunden MTV wirft den Betrachter auf sich selbst zurück. Redundanz und Reduktion fallen letztlich zusammen. Paik hat beides probiert: sein Schallplatten-Schaschlik von 1963 simuliert die Vielfalt der Kanäle im Heimbetrieb und nimmt nebenbei das Scratching vorweg.
Noch lange, bevor jemand an Video dachte, hat ein Künstler die erste Platte zum Zusehen statt Zuhören auf den Markt gebracht. Marcel Duchamp hat 1935 seine Disques optiques oder Rotoreliefs zu Hunderten hergestellt: Scheiben aus Pappe, die man auf einen Schallplattenapparat legt und die durch die Drehung optische Illusionen hervorrufen. Er wollte sie auf einer Erfinder- und Haushaltswarenmesse verkaufen, war jedoch völlig erfolglos. Aber das nur als ein etwas entlegenes Beispiel. Die Illusion als Spannung von Abbild und Wirklichkeit ist seit 2 000 Jahren Thema der Kunst. Heute muß man die Frage in bezug auf die Medien stellen, wie es Paik mit seinem TV-Buddha gemacht hat. Plato nannte die Maler Lügner, weil sie Täuschungen produzieren, heute ist die Malerei vielleicht authentischer als das beliebig manipulierbare elektronische Bild.
B: Das Abbild/Realität-Thema ist doch ein alter Hut, ein Stück bildungsbürgerliches Gedankentum. Die soziale Wirklichkeit hat die Diskussion hier längst überholt. Die Fiktion der Medien bestimmt das Bild der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit richtet sich nach dem Abbild, man kann hier überhaupt nicht mehr differenzieren. Das gilt für den rationalen Bereich genauso wie für den emotionalen: Die TV-Realität ist glaubhafter als die selbst gesehene, und der Tod eines Serienhelden weckt mehr öffentliche Empörung als der eines wirklichen Menschen. Von Lüge im Unterschied zu irgendeiner unabhängigen Wahrheit kann man hier nicht mehr sprechen.
A: Mythen der Kunst sind zu Mythen der Technik geworden. Aus der griechischen Antike stammt der Künstlermythos von den Trauben des Zeuxis. Er soll so täuschend echte Trauben gemalt haben, daß Vögel sich darauf niederließen, um sie zu fressen. Eines der traditionsreichsten Schallplatten-Labels hat eine neue Version dieser Geschichte zu seinem Signet gemacht – “His Master’s Voice”: Der Hund sitzt vor dem Grammophon und lauscht der Stimme seines Herren. Er folgt seinen Worten, weil das Grammophon sie so täuschend ähnlich wiedergibt. Und im Zeitalter der elektronischen Hi-Fi-Aufzeichnung stellt eine Werbeanzeige angesichts einer Sängerin die Frage: “Is it Live or is it Memorex?”
B: Und wenn man diese Frage nicht mehr stellt, weil sie sinnlos oder unbeantwortbar geworden ist? In dieser Situation sind wir doch schon! Das ist der Anbruch der Postmoderne in der Politik. Die markigen Aussprüche von Ronald Reagan sind meist Zitate aus Filmen. “Liebling, ich hab’ vergessen, mich zu ducken”, sagte er zu seiner Frau nach dem mißlungenen Attentat. Das stammt aus einem Film über den Boxer Jack Dempsey. Als Reagan 1984 über amerikanische Soldatengräber in der Normandie geht, fragt er gerührt: “Wo finden wir solche Männer? ” Die Frage stammt aus dem Film Die Brücken von Toko-Ri. Den Ruhm, der ihm als Schauspieler versagt blieb, erreicht er in der Politik mit denselben Mitteln. Zwischen Filmstar und Politiker ist nur noch ein gradueller Unterschied, auch Clint Eastwood hat politische Ambitionen. Nach einer Grenze von Fiktion und einer objektiven Realität zu, suchen, geht bei der Universalität der Medien doch von veralteten Voraussetzungen aus. Laut einer Meldung des Filmfachblatts Box Office Barometer aus Hollywood von Anfang 1941 war für das Filmprojekt Casablanca jemand anderes als Humphrey Bogart in der Hauptrolle vorgesehen: Ronald Reagan.
A: Ach, Bogart wäre bestimmt auch ein guter Präsident geworden.
© Dieter Daniels 1987
veröffentlicht in: Clip, Klapp, Bum: von der visuellen Musik zum Musikvideo, [Hg.] Veruschka Bódy & Peter Weibel, DuMont, Köln 1987; S. 165–180
Len Lye, Rainbow Dance (1 936)/Trickfilm
John Cage, 4’33", Programm der ersten Aufführung in Woodstock, N.Y. (29.8.1952)
Nam June Paik, Schallplatten-Schaschlik (1 963)/Klangskulptur
Marcel Duchamp, Rotoreliefs (1935)/sechs beidseitig bedruckte Kartonscheiben
George Brecht, Drip Music (1963/66). Bronzeinstallation auf Eichenbohle, 200 x 28,5 x 30 cm. Sammlung Wolfgang Feelisch, Remscheid
As it Live or is it Memorex?/Werbeanzeige.
(Dieter Daniels)