Eric Kluitenberg


Die Kunst der Selektivität

Perspektiven der Online-Archivierung. Ein Bericht über den Workshop "Digital Dive" [DEAF 2000].


Die Kunst der Selektivität [link 01]

Die Kunst der Selektivität

Inhalt

Inhaltliche Beschreibung

Das Internet scheint mittlerweile das ultimative Medium für Speicherfanatiker zu sein. Endlich können sie die ganze Welt in verschiedenen digitalen Formaten online speichern und immer auf dem neuesten Stand halten. Doch innerhalb der Vielzahl von subjektiven Meinungen und persönlichen, mit Anekdoten versehenen Archiven scheint die autoritative Stimme verloren. Es ist nahezu unmöglich, eine solche Stimme im Internet zu finden, und es scheint genauso unmöglich, ihr Gehör zu verschaffen. Ich persönlich halte dies für gut, aber wenn man über das Wesen und die mögliche Nutzung von Online-Archiven nachzudenken beginnt, wirft diese Tatsache doch eine ganze Reihe von Fragen auf.

Sollte man sich dafür entscheiden, wirklich alles zu speichern und hauptsächlich in verbesserte Suchtechniken investieren? Oder ist das uralte Handwerk des Archivars auch heute noch ein Beruf von unschätzbarem Wert? Viele Leute fragen sich derzeit, was eigentlich der Sinn und Zweck von Online-Archiven ist, wenn diese doch nicht zu einer autoritativen Sammlung werden können, wenn der Aufbau einer lohnenden Online-Sammlung derart schwierig, da überaus arbeitsaufwendig ist und wenn die kommerzielle Entwicklung von Online-Archiven praktisch unmöglich ist, solange noch Fragen des geistigen Eigentums und des Urheberrechts ungeklärt sind.

Doch es gibt auch eine andere Sorte von Leuten, die frei von diesen düsteren Perspektiven und unbeeindruckt von den zahllosen noch ungelösten Problemen auf diesem Gebiet zu sein scheinen. Für sie sind die Online-Archive mit ihren über Hyperlinks verknüpften Informationsquellen fruchtbares Neuland: Hier können traditionelle Hierarchien der Informationsabstraktion infrage gestellt, einheitliche Perspektiven zurückgelassen und kann sogar die Informationsverarbeitung als sozialer bzw. communitybasierter Vorgang neu erfunden werden. Während des Workshops, der im November 2000 im Rahmen des Dutch Electronic Art Festivals (DEAF 00) in Rotterdam von V2_Organisation veranstaltet wurde, kamen Vertreter dieser zweiten Gruppe zusammen, um über ihre Projekte in der großen Welt der Online-Archivierung zu diskutieren. Die Teilnehmer stammten hauptsächlich aus dem künstlerisch-kulturellen Bereich und waren spezialisiert auf elektronische Kunst oder Medienkunst (einschließlich internetbasierter Kunstformen), doch wir hatten auch die Ehre der Anwesenheit von Vertretern jener Berufe, die man normalerweise mit Fragen der Archivierung in Verbindung bringt: Bibliothekare, Foto- und Audio-Video-Archivare sowie Vertreter der Museumswelt.

Zwei Tage intensiver Diskussion führten zu einem produktiven Ideen- und Meinungsaustausch über die aktuelle Lage im Bereich Online-Datenbanken und darüber, wie solche Datenbanken in einem kulturellen Kontext eingesetzt und weiterentwickelt werden können. Die Diskussion zeigte deutlich, dass viele der Anwesenden davon ausgehen, dass ein wichtiger Teil der künftigen Nutzungen des Internets sich um datenbankgestützte Online-Medien drehen bzw. von diesen unterstützt werden wird. Die Workshop-Teilnehmer haben versucht, einige Hauptdiskussionsbereiche zu definieren und visionärere Perspektiven zu entwickeln, als man normalerweise von bodenständigen Archivaren erwarten würde.

Option Polyperspektivität

Christian Hübler und Alexander Tuchacek von Knowbotic Research stellten ihren Prototyp für ein neues Online-Datenbanksystem vor, das auf dem _Vilém_Flusser_Archiv beruht, welches kürzlich der Kunsthochschule für Medien in Köln gestiftet wurde.

Die Online-Version des Archivs befindet sich in einem relativ frühen Entwicklungsstadium. Eine der Hauptfragen, mit denen sich Hübler und Tuchacek bei der Erstellung dieses Systems befassen, ist das Potenzial von Online-Datenbanken, die einheitliche Sichtweise auf Daten zu durchbrechen. Die Online-Version des _Vilém_Flusser_Archivs soll stattdessen Polyperspektivität ermöglichen, d.h. mehrere Sichtweisen auf denselben Datenbestand, mehrere Möglichkeiten der Informationsauswahl und neuartige Nutzerbeiträge zum Bestand.

Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, will man dabei vermeiden, dass das Online-Archiv der Willkür erliegt. Die Lösung dieses Problems ist recht überraschend. Anstelle einer äußerst komplexen, ausgefeilten technischen Architektur schlagen Hübler und Tuchacek vor, mit einem sozialen Modell zu arbeiten und zwar durch Schaffung eines »Einladungsnetzwerks«. Der Grundgedanke dabei ist, dass Forscher und andere fachlich involvierte Nutzer der Datenbank dezentral gespeicherte, untergeordnete Sätze der jeweiligen Daten anlegen, die als lokale Äste eines logischen Baums im Gesamtsystem fungieren. Sobald Nutzer zur Teilnahme am Netzwerk eingeladen worden sind, können sie selbst wiederum andere Leute zur Mitwirkung einladen und auf diese Weise neue Unterverzweigungen innerhalb ihres eigenen Astes erstellen.

Die Crux bei diesem Ansatz ist der soziale Faktor, über den sichergestellt werden muss, dass nur Personen mit einem echten, begründeten Interesse für das Themengebiet eingeladen werden, zu Architektur und Inhalt des Gesamtsystems beizutragen. Der Ansatz kann mit Hilfe einer relativ einfachen technischen Architektur realisiert werden, die offen ist für neue Nutzer und deren Beiträge und für das Hinzufügen neuer Materialien, während das Engagement der Teilnehmer dafür sorgen soll, dass sinnlose Erweiterungen verhindert werden. Auch können externe Nutzer durch die Struktur der lokalen Verzweigungen den Ursprung bestimmter lokaler Ergänzungen zum Gesamtsystem und Gesamtdatenbestand erkennen. Jeder lokale Ast repräsentiert eine lokale bzw. persönliche Sichtweise auf das Archiv und seinen Datenbestand.

Datenbankerstellung als soziale Praxis

Der Grundgedanke, Aufbau und Pflege von Datenbanken in erster Linie als eine soziale Praxis zu betrachten, zeigt sich noch stärker im Fall von Orang Orang, der Online-Datenbank für Real-Audio Musik- und Klangkunstwerke, sowie bei den damit zusammenhängenden Systemen Open Video Archive (OVA) http://ova.zkm.de/ und Open Meta Archive (OMA). Alle diese Systeme wurden von Thomax Kaulman entwickelt, der seinerzeit am Aufbau des Community-Netzwerks »Internationale Stadt Berlin« und der net.radio-Gruppe »Radio Internationale Stadt«, ebenfalls Berlin, beteiligt war.

Bei Orang Orang erfolgt die Erweiterung und Pflege der Datenbank durch eine große Gruppe von Nutzern (ca. 200 Personen), die zu einer recht engen Community von Musikern, Klangkünstlern, DJs, Organisatoren und experimentellen Radiomachern gehören. Die Datenbank befindet sich gleichzeitig auf mehreren Servern, die sich gegenseitig automatisch per SMTP-Protokoll aktualisieren.

Dieses System verlässt sich voll und ganz auf eine lokale Teilhabergruppe und zwar sowohl in Bezug auf die Mitwirkung dieser Gruppe an der Erstellung und Pflege der Datenbank als auch zur Validierung der in der Datenbank enthaltenen Objekte. In der Diskussion kam zum Ausdruck, dass viele Organisationen und Initiativen, die im Bereich konnektiver Netzwerke tätig sind, derzeit den unschätzbaren Wert einer engagierten Nutzerbasis erkennen. Diese Art der nutzergesteuerten Auswahl und Klassifizierung könnte man als soziales Filtern bezeichnen.

Im Fall des von Paul Perry erwähnten »everything.com« wird ein Online-Archiv über alles erstellt. Die Nutzer des Archivs bewerten die einzelnen Beiträge, so dass leicht zu erkennen ist, welche Einträge besonders beliebt bzw. unbeliebt sind. Ein ähnliches Beispiel für ein System mit Nutzerbewertungen sind die von einzelnen Nutzern erstellten Buchbesprechungen bei amazon.com.

In diesem Zusammenhang ist wichtig festzuhalten, dass Orang Orang weder ein totes Archiv noch ein Archiv toter Kunstobjekte ist. Vielmehr wird das System von einer sehr lebendigen Community von (Klang-) Künstlern erstellt und fortlaufend erweitert. Sie nutzen die Datenbank nicht als Archiv zur Konservierung des kulturellen Erbes, sondern als Hilfsmittel für lebende Kultur und zeitgenössische kulturelle Produktionen. Die soziale Dynamik der Nutzung des Orang Orang-Systems unterscheidet sich somit maßgeblich von dem System, das bei den großen EU-geförderten Projekten für multimediale Zugriffe auf das Kulturerbe, wie z. B. im Rahmen des MEDICI-Programms, im Vordergrund steht.

Alles bewegt sich - das veränderliche Wesen technischer Standards

Eine wichtige, immer wiederkehrende Frage für alle, die mit Online-Archiven - und insbesondere der Archivierung von Online-Materialien oder Online-Kunstwerken - zu tun haben, sind die sich laufend ändernden technischen Standards. Die berechtigten Klagen von Computernutzern, dass sie sich bereits als Sklaven der ständigen Updates fühlen, legen hierüber Zeugnis ab. In der Online-Welt ist dieses Problem sogar noch gravierender.

Während der Diskussion über das ArtBase-Projekt von Rhizome, ein Online-Archiv von Internet-Kunstprojekten, wurde von Jennifer Crowe die entscheidende Frage aufgeworfen: Was sollte überhaupt archiviert und konserviert werden? Die Werke als Ganzes so akkurat wie möglich? Oder lieber nur eine Beschreibung der Werke - was die geeignetere Lösung zu sein scheint, wenn das eigentliche Werk »real-live« ist und unmittelbare soziale Interaktionen beinhaltet? Oder sollte man eine technische Kopie als akkurate Simulation in einem aktuelleren technischen Standard speichern? Was gilt als getreue Reproduktion? Sollten die Objekte an sich oder die Metadaten archiviert werden? Im Fall von Rhizome lautet die Antwort: beides.

In manchen Fällen, wie bei dem Netzkünstler-Duo Jodi, werden Werke speziell für einen bestimmten Softwarestandard produziert. Eines der Werke von jodi.org beruht z.B. auf einem Fehler in der Version 2.0 des Netscape Internet-Browsers. Was soll man in solchen Fällen archivieren? Das Werk an sich zusammen mit der Betrachtungssoftware, das Werk und die passenden Plug-Ins? Wie sieht es mit der Hardware aus?

Selektion und Identifikation

Die Frage, was aus technischer Sicht archiviert werden sollte, leitet über zu dem allgemeineren Thema der Auswahl. In weiten Teilen des traditionellen künstlerisch-kulturellen Bereichs wird die Identität von kulturellen Institutionen und Initiativen nicht durch deren Inklusivität, sondern vielmehr durch deren sorgfältige und kritische Selektion von Inhalten definiert. In der Online-Welt dagegen scheint alles zur Ideologie der Konnektivität zu neigen. Dies wirft die Frage auf, inwieweit die nahtlose Verknüpfung von Online-Archiven und Online-Datenbanken im Zusammenhang mit der Definition von Identität, Bedeutung und Kontext überhaupt wünschenswert ist.

Die Idee einer Verknüpfung von Archiven und Datenbanken wirft offensichtlich wichtige technische Fragen auf: als erstes die Frage gemeinsamer Standards, die Grundlage einer »Interoperabilität« sind, als nächstes die noch komplexere Frage der Kategorisierung und der Standardisierung von Schlüsselwörtern in den Datenbank-Indizes. Derselbe Begriff kann in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben.

Im Bibliotheksbereich laufen derzeit mehrere Projekte zur Erstellung solcher technischer und semantischer Standards, und sie werden dort auch bereits angewendet. Im Museumsbereich, insbesondere bei Kunstmuseen, ist die nahtlose Verknüpfung von Online-Archivierungssystemen problematischer. Selbst wenn die Bereitschaft dafür vorhanden ist, steht bisher noch kein geeignetes Beschreibungssystem zur Verfügung, das eine sinnvolle Querverknüpfung von Online-Archiven ermöglicht, bzw. ein solches System ist in der Museumswelt noch nicht weit verbreitet. Das nächste Problem besteht darin, dass bisher noch keine Einigung über die Entwicklung einer Metasprache erzielt worden ist, mit der austauschbare Beschreibungen von Informationsobjekten unabhängig vom Medientyp erstellt werden können.

Ein wichtiger Punkt im Rahmen der Diskussion war, dass Bedeutungsstandards innerhalb bestimmter Interessensgruppen oder Regionen nicht automatisch zurückgewiesen werden sollten. Es gibt letzten Endes keine allgemein richtige Beschreibung eines Objektes, und die Tatsache, dass eine bestimmte Beschreibung nur in einem bestimmten lokalen Kontext seine kommunikative Funktion erfüllt, disqualifiziert trotzdem nicht den Wert dieser Beschreibung. »Lokal« kann sich in diesem Zusammenhang natürlich auch auf geographisch verstreute Fach-Communities beziehen. Jede soziale Gruppe benutzt jedoch bestimmte Kategorien und Termini, um Dinge voneinander zu unterscheiden; Musikstile und -bezeichnungen sind ein sehr einfaches Beispiel. Diese Kategorien können für einige besondere musikalische (Sub-) Kulturen sehr speziell sein.

Agenten

Es gab einige Diskussion über die Nutzung von intelligenten Agenten als Vermittler für komplexe Informationssysteme und detaillierte Nutzeranfragen. Ein besprochenes Beispiel ist das Proxy-System. Die Forschung in dieser Richtung scheint ein wenig nachgelassen zu haben. Den Workshop-Teilnehmern schien der NIA-Ansatz (Naturally Intelligent Agent), d.h. der Nutzer als Produzent, weiter verbreitet bzw. viel versprechender zu sein.

Personalisierung von Daten

Ein letztes Thema ist die Personalisierung von Daten. Durch eine datenbankinterne Speicherung von Daten zum Nutzerverhalten kann ein maßgeschneiderter Service für regelmäßige Besucher eines Online-Archivs entwickelt werden. Diese Profilerstellung für regelmäßige Nutzer ist jedoch nicht ohne datenschutztechnische Risiken. Das System trägt vertrauliche und hochgradig spezifische personenbezogene Daten über die profilierten Nutzer zusammen, was für Marketingzwecke sehr wertvoll ist, gleichzeitig jedoch wichtige rechtliche Fragen aufwirft. Aus diesem Grund sollte hier eine klare Datenschutzpolitik und eine eindeutige Präferenz für anonyme Systeme gegenüber Systemen mit Nutzeridentifikation ein allgemeines Anliegen sein.

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